: Proteste in Wien gegen neue Koalition
Nach der Einigung über eine große Koalition gibt es Kritik an der Kompromissbereitschaft der Sozialdemokraten
WIEN taz ■ Die Bildung einer großen Koalition aus Sozialdemokraten (SPÖ) und der konservativen Volkspartei (ÖVP) hat in Österreich Proteste und Kopfschütteln hervorgerufen. Die ganze Nacht protestierten Vertreter der Jusos und der grün-rot geführten Studentenschaft vor der Parteizentrale der SPÖ. Das am Montag verkündete Koalitionsabkommen, in dem die traditionell wichtigsten Ressorts dem Wahlverlierer ÖVP überlassen werden, wollen sie genauso wenig hinnehmen wie die Beibehaltung der Studiengebühren. Auch bei den Landesparteichefs lösten die Konzessionen des zukünftigen Bundeskanzlers Alfred Gusenbauer (SPÖ) Kopfschütteln und Enttäuschung aus. Dementsprechend geladen war die Stimmung gestern beim Parteipräsidium, das den Pakt nach heißen Debatten mit nur 75 Prozent Zustimmung abgesegnete.
Gusenbauer verteidigte das Ergebnis der Verhandlungen. Schließlich seien die Zukunftsressorts Bildung, Infrastruktur und Forschung sowie Soziales, wo in den nächsten Jahren am meisten zusätzliches Geld investiert werde, in der Hand der SPÖ. Die Aufforderung des sichtbar erschütterten Exfinanzministers Hannes Androsch, die Verteilung der Ministerien neu zu verhandeln, verhallte ungehört. Die ÖVP behält praktisch alle Ressorts, die sie bisher schon besetzt hat: Finanzen, Inneres, Äußeres, Wirtschaft und Arbeit, Gesundheit, Landwirtschaft und Umwelt, Wissenschaft. Auch personell ändert sich nicht viel.
Allerdings verlief auch die Sitzung des ÖVP-Präsidiums nicht ohne Reibereien. Wolfgang Schüssels Wunsch, den parteifreien Karl-Heinz Grasser nicht nur als Finanzminister weiter im Amt zu belassen, sondern auch zum Vizekanzler zu machen, wurde von der Partei nicht goutiert. Vor allem der Arbeitnehmerbund ÖAAB trat gegen den egomanischen Society-Star auf. Grasser warf schließlich genervt den Hut und enthüllte dann „das bestgehütete Geheimnis der Republik“: Im Oktober schon habe er dem amtierenden Bundeskanzler Wolfgang Schüssel seinen Rückzug in die Privatwirtschaft angekündigt. Vorerst wolle er sich um seine Frau und deren Kinder kümmern.
Vizekanzler und Finanzminister wird daher der bisherige Fraktionschef Wilhelm Molterer, 51, lange schon Wolfgang Schüssels rechte Hand. Seinen Posten wird Schüssel übernehmen, bis ihn die Rente oder ein Ruf nach Brüssel ereilt. RALF LEONHARD