: Zu viele Muskeln
RUGBY Das Sechs-Nationen-Turnier ist ein Spektakel, doch das gute Image des Sports bröckelt ein wenig
BERLIN taz | Hunderttausende Menschen werden in den nächsten Wochen in Frankreich, England oder auch Italien in die Stadien strömen, um die Partien des Sechs-Nationen-Turniers, die inoffizielle Europameisterschaft des Rugbys, verfolgen zu können. Im Pariser Stade de France erwartet man 80.000 Zuschauer beim Heimspiel des Titelverteidigers gegen Schottland. In Deutschland hätte man schon Probleme damit, eine Provinzarena mit Rugbyfans zu füllen.
Die heutige Eröffnungspartie Wales gegen England führt schon Wochen vor dem Spiel zu hitzigen Diskussionen. Bisher wird England als Favorit gehandelt. Die Rockband Stereophonics schrieb im Jahre 1999 sogar ein Lied über dieses Prestigeduell, in dem es heißt: „As long as we beat the English, we don’t care.“ Solange wir England schlagen, ist uns der Rest egal. Es geht um nicht weniger als um die Ehre eines ganzen Landes.
Die Zeiten, in denen eine Horde kerniger Kerle einem Lederei hinterherjagte und anschließend die dritte Halbzeit im Pub verbrachte, sind lange vorbei. Rugby hat sich verändert. Bis 1995 war es verboten, Spieler zu bezahlen. Der Amateurstatus wurde hochgehalten. Heute geht es professionell zu. Mit ansehnlichen Einschaltquoten, dicken Vereinsbudgets, üppigen Spielergehältern und allen damit einhergehenden Schattenseiten. Knapp 500 Millionen Euro Gewinn hat das letzte Sechs-Nationen-Turnier erwirtschaftet – das geht aus einem Bericht von Mastercard hervor. 1.005.654 Zuschauer waren in den Stadien. Zum Vergleich: Bei der Fußball-EM 2008 in Österreich und der Schweiz waren es mit 1.140.902 nur unwesentlich mehr.
Mit dem Budget wachsen aber auch die Probleme. Lange galt das Credo, der Sport sei a hooligans game, played by gentlemen. Wenn es ums Geld geht, scheint die Gentleman-Ehre schnell vergessen. Im Heineken Cup, der Champions League des Rugby, kam es 2009 im Spiel der Londoner Harlequins gegen Leinster aus Dublin zum ersten großen Betrugsskandal, der als „Bloodgate“ bekannt wurde. Blutkapseln wurden dazu genutzt, um sich illegal auswechseln zu lassen.
Mit der Professionalisierung des Sports steigen auch die schweren Verletzungen rasant an, das zeigt eine Studie von Prof. Dr. William Garraway von der Edinburgh Medical School. „Die Zahl der Verletzungen hat sich etwa verdoppelt“, so Garraway. Das Phänomen wurde in England von den Medien treffend betitelt: Die gym monkeys seien schuld. Spieler, die mehr Muskeln als technisches Können aufweisen. Durch den Druck der Teams würden die jungen Talente dazu gezwungen, immer mehr Zeit im Kraftraum zu verbringen. Das Wettrüsten der Körper übersteigt das, was Menschen aushalten können. Der Sport wird zu hart für seine Spieler.
Positiv hervorzuheben ist, dass der bislang auffällig freundschaftliche Umgang der Sportler untereinander bis heute positiven Einfluss auf die Fankultur genommen hat. Bei der WM 2007 in Frankreich etwa, als der spätere Weltmeister Südafrika gegen den kleinen Inselstaat Tonga antrat, lagen die Insulaner zur Halbzeit klar zurück. Tonga kämpfte sich aber unter den Anfeuerungsrufen der südafrikanischen Fans, die spontan Sympathie für den couragierten Außenseiter empfanden, beherzt ins Spiel zurück und hätte beinahe den Rückstand noch aufgeholt.
Wenn nun aber durch die Kommerzialisierung solche Traditionen wegbrechen und allein der Wettbewerb im Vordergrund steht, verliert das Spiel einen wichtigen Gegenpol zum brutalen Geschehen auf dem Platz. In Deutschland schaut man zwar zuweilen neidisch auf die großen Rugbynationen, aber solche Probleme plagen die Amateursportler dafür nicht. RASMUS CLOES