: „Scheiße als letzte Grenze“
TABU Warum schämen wir uns so für das, was wir auf der Toilette machen? Der Autor von „Dunkle Materie“ erklärt Scham und Ekel
■ Der Literaturwissenschaftler ist 39 Jahre alt und hat über Rap und Apokalypse promoviert. „Dunkle Materie“ widmet sich der Geschichte der Scheiße und erscheint am 7. Februar bei Nagel & Kimche.
INTERVIEW JOHANNES GERNERT
taz: Herr Werner, Sie haben ein Buch über die „Geschichte der Scheiße“ geschrieben. Zurzeit beobachten Sie gar eine kulturelle Renaissance der Scheiße. Wie kommen sie denn darauf? Florian Werner: Es gibt etliche Beispiele: Bei der MTV-Sendung „Jackass“ rollen sich Menschen in Dixie-Toiletten den Berg hinunter. In der Comic-Serie „Southpark“ tanzt Hanky der Weihnachtskot aus der Toilette heraus. Im neuesten Brenner-Roman von Wolf Haas wird der Detektiv in der Jauchegrube erleuchtet. Bullshit ist ein Modewort. Borat präsentiert seinen Gastgebern eine Tüte voll Kacke und sagt, das sei eine kasachische Tradition. Wie erklären Sie sich das alles? In einer Gesellschaft, die vollkommen durchrationalisiert und auf maximale Effizienz ausgelegt ist, stellt Scheiße vielleicht eine Art letzte Grenze dar. Eine wertlose Substanz, die sich der marktwirtschaftlichen Logik entzieht. Täglich wendet jeder Mensch beträchtliche Zeit und Energie auf, um etwas herzustellen, das dann sofort wieder beseitigt wird. Im Schnitt verbringt er ein Jahr seiner Lebenszeit damit. Das hat etwas Absurdes.
■ Der Inhalt: Menschlicher Kot besteht zu 75 Prozent aus Wasser. Er enthält Ballaststoffe, Bindegewebsfasern, Fett, abgestoßene Darmzellen, Schleim und abgestorbene Mikroorganismen. Für die braune Farbe ist der Stoff Sterkobilin verantwortlich. Die Verdauung dauert zwei bis drei Tage.
■ Der Unterschied: Für den Geruch sorgen Skatol und Indol, die vor allem in tierischen Eiweißen enthalten sind, weshalb Vegetarierkot weniger stinkt. Ein Stuhlgang wiegt im europäischen Durchschnitt 100 bis 150 Gramm bei Karnivoren und 300 bis 400 Gramm bei Vegetariern. Sie essen mehr unverdauliche Ballaststoffe.
Menschen finden das aber in der Regel nicht witzig. Sie ekeln sich vor Scheiße. Sie ist ja auch so etwas wie ein vorweggenommenes Leichenteil. Hegel schreibt: Die Defäkation ist ein abstraktes Abstoßen seiner von sich selbst – wie Haarschuppen, Fingernägel oder Zahnbelag. Alles, was zum Körper gehört, ihn andererseits aber schon wieder verlässt und den Verfall, das Verrotten vorwegnimmt, scheint Ekel zu erregen. Das stärkste Ekeltabu betrifft nicht die Scheiße, sondern den verwesenden Leichnam. Die Scheiße ist nur einen Schritt weit davon entfernt. Je weiter die Zivilisation fortgeschritten ist, desto penibler wird die Scheiße versteckt. Seit wann ist das so? Die größte Veränderung findet man in den Quellen aus dem 16. Jahrhundert, wo die Verhaltensregeln für den Umgang mit den eigenen Exkrementen stark zunehmen. Da wird in Hofordnungen geschrieben, man solle, wenn man vom Klo zurückkommt, sich den Hosenbund nicht an der Speisetafel zumachen. Oder in der Burg nicht vor die Türe des Speisesaals scheißen. Bis dahin scheint das nicht mit Scham belegt gewesen zu sein. Der Mensch des Mittelalters verstand sich nicht so klar als Individuum, sondern als einen durchlässigen Körper in einer großen Masse. Der Körper wurde nicht so abgegrenzt gedacht wie heute. Heute haben wir einen Höhepunkt der Hygienisierung erreicht. In Japan wird sogar versucht, die Geräusche auf Toiletten mit sogenannten Geräuschprinzessinnen zu unterdrücken. Zuvor hatten viele Japaner ständig die Wasserspülung betätigt, um Furzgeräusche zu übertönen. Deshalb wurde dieses künstliche Geräusch eingeführt. Dabei besteht ja kein Zweifel darüber – auch nicht in Japan –, was Menschen auf der Toilette tun. Na gut, es gibt Unterschiede: großes und kleines Geschäft. Tatsächlich ist Kot stärker tabuisiert als Urin. Man steht nebeneinander und pinkelt, man sitzt nicht nebeneinander und kackt. Im Mittelalter galt Scheißegeruch nicht so sehr als Gestank? Wenn die Leute auf dem Feld waren und dann in die Stube kamen, haben sie vermutlich gemerkt, dass es nach Mist und Rauch roch. Aber sie hätten es nicht als Gestank wahrgenommen. Man gewöhnt sich an alles. Eine Zeitung, von der manche sagen, dass sie täglich einiges an Scheiße produziert, hat in einem Werbespot einmal eines der größten Tabus thematisiert. Da sagte eine Frau kurz vorm Sex: Ich geh mal kurz kacken …Es gibt auch von Jonathan Swift ein tolles Gedicht, in dem ein Verehrer feststellen muss, dass die Angebetete scheißt, und darüber kaum hinwegkommt: „Oh! Celia, Celia, Celia shits!“ Jeder möchte das Objekt der Verehrung entheben von dieser profanen Sphäre. Obwohl wir wissen, dass alle das tun, verliert jeder, egal ob die Geliebte, Angela Merkel oder Josef Ackermann, seinen Status, wenn man ihn sich auf der Toilette vorstellt. Es erinnert daran, dass der Mensch eben auch Körper ist, nicht nur Kanzlerin oder Aufsichtsratschef. Das Tabu, menschliche Scheiße zu essen, hinterfragen Sie ganz besonders interessiert. Warum? Viele Tiere fressen ihre Exkremente. Elefanten in Dürreperioden, um Feuchtigkeit herauszuholen. Eichhörnchen ihre eigenen Köttel, weil noch Nährstoffe drin sind. Der Mensch ist das einzige Tier, das Ekel vor seinem Kot empfindet. Ich will gar nicht bestreiten, dass es medizinische Argumente für dieses Tabu gibt. Im kotverschmutzten Wasser können sich Krankheiten leichter übertragen. Man isst aber auch Gummibärchen oder man raucht, obwohl das ungesünder ist, nur nicht so sehr mit Ekel belegt wie die Scheiße. „Two Girls one cup“ fällt einem da ein, ein Internetvideo, in dem zwei Frauen angeblich Kot essen – oder Schokolade. Natürlich wird behauptet, es sei echt. Es ist ein Werbetrailer für einen fäkalfetischistischen Porno. Obwohl ich einiges kannte, habe ich dabei so panisch auf den Computer gehauen, dass ich ihn sofort zum Absturz gebracht habe. Es berührt einen körperlich. Man weiß nicht, ob das echt ist, aber übergibt sich fast. Alles kulturelle Prägung? Was dafür spricht: Kinder finden ihren Kot, wie schon Freud festgestellt hat, nicht schlimm. Ich habe eine kleine Tochter. Sie steht ihrem Kot noch fast ohne Ekel gegenüber. Als hätte sie Freud gelesen, fragt sie ganz unschuldig: Kann man das essen? Sie sagen: Theoretisch ja, aber kulturell ist das negativ kodiert. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion und der sozialen Integration sage ich einfach: Nein. Es hielt sich teils der Glaube: Wer die Scheiße von Heiligen isst, dem wird Gnade zuteil. Ja, der Begriff der heiligen Scheiße, holy shit. Es gibt schon in den apokryphen Evangelien Geschichten davon, dass die Scheiße Christi Kranke heilt. Jesus hängt eine Windel zum Trocknen auf, und ein leprakranker Knabe, der vorbeiläuft, wird gesund. Heilung verspricht auch die Dreck-Apotheke. Was um Himmels willen müssen wir uns darunter vorstellen? Das war eine gängige Therapieform zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Da gibt es umfangreiche Bände, in denen jedes Rezept mit einer bestimmten Art von Kot arbeitet. Taubenkot, Hundekot, gedörrter Eselskot, aber auch Menschenkot. Warum sagen wir eigentlich „großes Geschäft“? Etymologisch ist es das, was man geschaffen hat. Der Freudianer würde sagen, dass Kot die erste Währung ist. Das Erste, was ein Kind hervorbringt und seinen Eltern als Geschenk präsentiert. Ein Tauschhandel, man bietet seine Kacke an und wird belobigt. Gut gemacht! In der analen Phase kann sich dann der anal-retentive Charakter entwickeln: Der Mensch, der als Kleinkind immer eigensinnig auf seinem Topf sitzen bleibt, so die Theorie, sitzt später auch geizig auf dem Geldsäckel. Man reißt seine Kinder also besser vom Topf? Du wirst mir sonst anal-retentiv, Mädchen! Und haut ihm die Windeln um die Ohren, jaja. Können Sie überhaupt noch unbeschwert das Klo benutzen? Man muss ja.