La vie en gerecht

EU „Was Hollandes Scheitern meine Partei lehrt“, erklärte Tübingens grüner OB Boris Palmer kürzlich in der „Zeit“. Hier die Replik eines jungen Franzosen

■ geb. 1986 in Montpellier, Politikwissenschaftler und Jurist, ist ein deutsch-französischer Kolumnist und Koordinator der SPE (Sozialdemokratischen Partei Europas) – Aktivisten in Deutschland. Er lebt in Köln.

Lieber Boris Palmer, etwas verspätet bedanke ich mich für Ihren Artikel in der Zeit vom 18. 6. 14, in dem Sie die Leserschaft vor François Hollandes Frankreich und seinen unerfüllten Wahlversprechen warnen. In Ihrem Artikel geht es vor allem darum, dass der Sozialismus tot und – schlimmer – der Erreger für Rechtsextremismus sei. Hiermit nehmen Sie, wie ein Großteil des liberal-konservativen Milieus, an der Jagd gegen die französischen Sozialisten teil und senden eine klare Botschaft an Ihre grün-konservative Wählerschaft. Diese lautet: Die neue Generation der Grünen (die Sie vermutlich verkörpern) hat letztendlich auf ihre sozialdemokratische Wurzeln verzichtet und vertritt nun die Ideen eines ökologischen Konservatismus in der freien Marktwirtschaft.

Wie schon zahlreiche Politikwissenschaftler beschrieben haben, pendeln die Grünen zwischen Sozialliberalismus und liberalem Stockkonservatismus. In einem Artikel, den Sie im Jahre 2011 veröffentlicht haben, bestreiten Sie vehement diese Argumentation und verteidigen sich mit der Idee, dass die heutige Welt aus ökologischen Gründen nicht so wie bisher ausgebeutet werden könne und dementsprechend dringend eine Regulierung erforderlich sei.

Ihre Idee ist grundsätzlich sicher richtig, und deswegen sollte die Forderung des Umweltschutzes nicht ausschließlich von einer Partei vertreten werden, sondern generell eine Grundlage der Programmatik jeder Partei sein. Die Weltökologie braucht Regeln. Man kann aber an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln, wenn man sieht, dass letztlich nur neue Kundschaft, die zuvor zur Wählerschaft der CDU oder FDP zählte, gewonnen werden soll.

Erasmus in Tübingen

Ich bin ein glücklicher Europäer. Nicht zuletzt, weil ich Sie als Erasmusstudent in Tübingen erlebt habe (insbesondere Ihr Kängurukostüm und die Brause-Pulver-Päckchen, die Sie an jeden Wahlberechtigen in der Disko verteilt haben, habe ich gemocht). Darüber hinaus gehöre ich einer Generation von jungen PolitikerInnen an, die über die alten Staatsgrenzen hinweg aktiv ist und die im Rahmen des letzten Europawahlkampfs gesehen hat, dass nur eine Politik der sozialen Gerechtigkeit und der europaweiten Umverteilung die EU und ihre Mitgliedstaaten retten kann.

Als Franzose, Mitglied der Parti Socialiste und zugleich der SPD, möchte ich Ihrer Kritik an Hollande widersprechen. Nicht, weil der unpopulärsten Präsident Frankreichs wie ich Franzose ist; sondern weil er, wie Sie, ein Realo geworden ist. Für uns, die im linken politischen Spektrum angesiedelt sind, sind die Realos oder Reformisten, wie man sie in Frankreich nennt, diejenigen, die durch eine vermutliche Affinität zur freien Marktwirtschaft den Fokus mehr auf die Wettbewerbsfähigkeit als auf das Schließen der Schere zwischen Arm und Reich setzen. Diese Neukonvertierten verwechseln leider zuungunsten des normalen Volkes die Förderung und den Respekt gegenüber der Unternehmerschaft mit der Interessenvertretung für die Reichsten. Der größte Fehler Hollandes ist letztendlich, sich nicht an seinen sozialprogressiven Kurs gehalten und die Versprechen seiner programmatischen Rede im Januar 2012 in Le Bourget unter den Teppich gekehrt zu haben: „Ich werde mir vor jeder Entscheidung, jeder Reform, jedem Gesetz die Frage stellen: Ist das gerecht?“

Was die EU-Bürger wollen

Die EU-Bürger wollen vor allem eine gerechte Verteilung des Reichtums und der Arbeitsstellen, so die Ergebnisse zahlreicher Sozialbewegungen in Europa und der Welt. Das schafft man aber nicht, wenn man, wie es die Kanzlerin Angela Merkel und wie Sie es auch bevorzugen, weitermacht.

Auch die Analogie, die Sie zwischen den Misserfolgen der Politik Hollandes und der Entwicklung des Front National vornehmen, möchte ich in aller Deutlichkeit bestreiten. Der Front National wächst nicht, weil Hollande viel versprochen hat. Der Front National wächst, weil sich die Franzosen traditionell immer kurz vor dem Abgrund wähnen. Unabhängig von der Politik fühlen sich die Franzosen in der Mehrheit von der Globalisierung bedroht. Sie fürchten, dass ihre Kultur, Sprache, ihre regionalen und lokalen Besonderheiten von ausländischen Einflüssen negativ beeinflusst werden könnten. Marine Le Pen nützt geschickt diese Angst und formalisiert sie innerhalb einer politischen Rhetorik.

Da die große Mehrheit der Franzosen stolze, liberale, individualistische Konservative sind, funktioniert diese Politik bisweilen sehr gut. Für den Sozialdemokraten Hollande, der die Mitbestimmung zwischen den Kräften des Landes bevorzugt, funktioniert es aber leider nicht. Die Franzosen warten auf ihre „Mutti-Merkel“, die sie mit schön klingenden, aber schwachen Versprechen schläfrig macht. Sie erwarten eine Beruhigung und nicht die Wahrheit über die Situation des Landes. Sie hassen ihn also genau deswegen: Viel zu ehrlich und demokratisch ist der französische Präsident. Dies hat also nichts, lieber Boris, mit der Couleur des politischen Versprechens zu tun.

Warum die Franzosen Hollande hassen? Weil er viel zu ehrlich und zu demokratisch ist

Von Hollande lernen

Bei einem Punkt gebe ich Ihnen jedoch recht. Aus Hollandes Absturz gilt es zu lernen. Und die entscheidend wichtige Lehre ist, dass die wachsende Umverteilung des Reichtums die Zukunft einer Gesellschaft aufs Spiel setzt und zwangsläufig zu Gewinnen bei den extremen Kräften führt (heute Europa und morgen Deutschland).

An dieser Stelle gebe ich Ihnen einen Lesetipp: Laden Sie Thomas Piketty zum nächsten Parteikongress der Grünen ein. Er wird euch dank seines Werkes „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ aufzeigen können, wieso die Politik der Mitte und des Spardogmas zur Revolution führt. Ebendieser Versuch der Rückeroberung der politischen Mitte, die Sie bevorzugen, ist genau das falsche politische Signal, um die Revolution zu verhindern. Das hat Hollande auch versucht, und genau das hat ihn seine Wählerschaft gekostet. Verzeihen Sie mir die Metapher, aber in Abgrenzung zu den konservativen Katzen haben die sozialdemokratische und die grüne Katze jeweils nur ein Leben und nicht sieben. Wenn wir unser Engagement für eine sozial gerechtere Gesellschaft verraten, sind wir endgültig tot. GABRIEL RICHARD-MOLARD