: Sieben Farben der Nacht
Von Jimi Hendrix bis Peter Gabriel haben viele Rockmusiker mit den Gnawa in Marokko gespielt. Unbekannt sind hingegen deren Trancetänze. Sie spielen das Leben der schwarzen Vorfahren nach
von ANDREAS KIRCHGÄSSNER
Abdellah Guinea kommt, wenn er kommt, er ist eben ein Gnawi, sagt Mustafa und bestellt noch zwei Kawa nusnus, halb Milch, halb Kaffee. Wir sitzen in seinem Lieblingscafé am Hafen Essaouiras. Von Jimi Hendrix bis Peter Gabriel haben fast alle von mir einst verehrten Rockmusiker mit den Gnawa gespielt. Irgendwann fand ich heraus, dass dies nur mediale Oberfläche ist. Die Gnawa sind mehr. Sie haben eine verborgene Seite: ihre Trancerituale. Mustafa, der Holzwarenhändler, hat guten Kontakt zu den Gnawa. Weil sie nicht allein von ihren nächtlichen Heilungsritualen leben können, arbeiten sie tagsüber als Schreiner und beliefern ihn mit ihren Produkten. Auch den Gembri, ihren dreisaitigen Schlagbass, bauen sie sich selbst: Das Holz des archaischen Instruments, das Fell, mit dem es bespannt ist, seine Größe und sein Klang variieren von Meister zu Meister.
Ich schaue hinüber zum Hafen von Essaouira. Im 16. Jahrhundert wurde er zu Marokkos Hauptumschlagplatz für Sklaven aus den subsaharischen Ländern. In Marokko gründeten sie eine Bruderschaft und erklärten Sidi Bilal zu ihrem Ahnherrn. Zu Mohammeds Zeiten soll er dessen schwarzer Sklave gewesen und vom Christentum zum Islam konvertiert sein. Von den Hütern des reinen Islam wird die Rechtgläubigkeit der Gnawa bezweifelt. Wo im Koran steht, dass zum Gebet gesungen, musiziert oder gar getanzt werden darf?
Am nächsten Tag führt mich Mustafa in immer engere Gassen. Es stinkt nach Urin. Mustafa schiebt eine abgewetzte Tür auf. Nach zwei Schritten begräbt uns Dunkelheit. Doch schon bald schlägt uns Licht ins Gesicht. Wir stehen im Blut. Im Hof hängt eine geschlachtete Ziege. Das Blut wurde auf dem Boden verstrichen. „Einen Schluck davon hat Abdellah getrunken“, erklärt Mustafa. Im Islam ist das ein Sakrileg. Aber die Gnawa müssen Tabus brechen, um in Verbindung mit den Geistern zu treten.
Abdellah geleitet uns in sein kleines Zimmer. Dort läuft ein Farbfernseher. Ein paar Jugendliche sitzt davor. Abdellahs Musiker. Ein Bericht über das Gnawa-Festival wird ausgestrahlt. Abdellah stopft Kiff in seine lange Pfeife. Als Sohn des legendären Gnawa-Meisters Boubker Guinea erlangte er nach langjähriger Ausbildung den Rang des Meisters, des Maâlem. Die höchste Auszeichnung unter den Gnawa. Aber dieses Zimmer, Ess-, Wohn- und Schlafraum für seine ganze Familie, verrät bitterste Armut.
Abdellah raucht die Kiffpfeife. Ständig. Ich frage ihn nach der Zeremonie, der „Lila“, die er heute Nacht leiten wird. Er hat dafür eine Wohnung aufgetan. Mitten in der Altstadt. Dort werden wir uns am Abend treffen. Inschallah!
Ganz am Ende der Gasse, wo man keine Wohnung mehr erwartet, öffnet sich am Abend eine unscheinbare Tür. Man bringt mich in einen kleinen Innenhof. Abdellah Guinea ist da. Er hat seine ganze Familie mitgebracht. Seine Musiker folgen ihm wie Schatten. Sie haben leuchtend bunte Gewänder übergeworfen, die ihnen Würde verleihen. Sie richten die Instrumente für die Prozession, die Metallkastagnetten, die wie gegeneinander geschlagene Topfdeckel scheppern, und die großen Trommeln, die sie Tbel nennen. Wir machen uns auf den Weg. Zwei Gassen weiter sammeln wir uns zur Prozession. „Aada.“ Ein Gebet zum Anfang und dazwischen, immer wieder ein Gebet. Vorneweg tragen Frauen und Kinder Kerzen, Datteln und Milch. Sie besprenkeln den Boden mit der Milch, opfern den Geistern die Datteln. Hinter ihnen Abdellah. Vor seinem Bauch eine große Tbel. Er schlägt das Fell mit einem krummen Stock an. Die anderen Musiker fallen ein. Langsam beginnen sie, jeder Schlag ein Kanonenböller. Dann steigern sie das Tempo. Die Krakebs klirren. Laut müssen sie sein, um die schlechten Geister zu vertreiben und den Ort für den Einzug der Mlouk, der Engel, zu bereiten.
Langsam schiebt sich die Prozession vorwärts. Im Haus hat sich die Zahl der Besucher bereits vervielfacht. Dicht an dicht umlagern sie die kleine Bühne im Hof. Dort nimmt Abdellah auf einem ausgebreiteten Fell Platz. Er schlägt den Gembri an, zupft die dicken Saiten. Spielt einen Lauf. Erhebt seine Stimme. Sie klingt tief und zart. Er spielt die „Erinnerungen“, „Auled Bambara“. Seine Musiker beginnen zu tanzen, einer nach dem anderen. Übertreffen einander in Drehungen und Sprüngen. Sie spielen das Leben der schwarzen Vorfahren nach. Mit einer imitierten Flinte gehen sie auf die Jagd, sammeln Holz im Wald, stellen die Gefangennahme durch Sklavenjäger dar. Keiner von ihnen hat das erlebt. Diese Tänze sind kollektive Erinnerung.
Es ist schon Nacht. Die Frauen decken die niedrigen Tische. In die Mitte stellen sie Platten mit Oliven, Gemüse und Ziegenfleisch. Der erste Gang ist den Musikern vorbehalten. Erst als sie gegessen und die Pfeifen geraucht haben, bitten sie die Gäste an die Tische. Abdellahs Kinder fallen hungrig über Oliven, Brot und Fleisch her. Der Grund, warum Abdellah sie mitbringt: Sie sollen sich satt essen. Auch ein paar Betrunkene wollen herein. Vergeblich versucht man, sie zum Gehen zu überreden. Die schwer lallenden Männer werden aufdringlich. Ich sehe die Besorgnis auf Abdellahs Gesicht.
Plötzlich steht, auf zwei Stöcke gestützt, ein steinaltes Männchen im Hof. Maâlem Machmuth Akharrez. Er trägt einen spitzen Filzhut und einen leuchtend roten Überwurf. Über 100 Jahre alt soll der Gnawi sein. Man küsst ihm die Hand, die Stirn. Mustafa rät mir, ihn für sein Kommen zu bezahlen. Eine Alterskasse kennen die Gnawa nicht.
Eine junge Frau am Tisch der Frauen fällt mir auf. Indisch sieht sie aus, das lange Haar hochgesteckt, die Augen groß geschminkt. Sie lacht und entblößt Zähne, die nur noch Stummel sind. Die Nasha, die eigentliche Reise zu den Geistern, beginnt. Ein Korb voll farbiger Tücher und bunter Räucherdöschen steht vor Abdellahs Füßen. Der Moqadem legt Räucherwerk und Kräuter auf die glühende Kohle. Parfüm, um die Geister zu betören. Seine Worte durchstoßen die Luft. „Amen“ mit Betonung auf „mén“, schallt es zurück. Ein Hin und Her, in dem sich der Moqadem und das Publikum gegenseitig hochschaukeln. Ein Erinnerungsstück aus dem Gepäck der schwarzen Sklaven. Die Gembri peitscht. Die Krakebs scheppern schrill, dass es in den Ohren klingt. In der Mitte stehen zwei ältere Frauen vornübergebeugt, stampfen von einem Fuß auf den anderen. Der Moqadem hat ihnen weiße Tücher übergeworfen. Die Tücher des Mlouk Abdelkadder Jilani, des Überbringers, der die Pforten zur Geisterwelt öffnet. Er räuchert die Frauen unter ihren Tüchern ein. Schwerfällig, aber vollkommen synchron wanken sie vor und zurück. Schnaufen, stöhnen. Stunde um Stunde wiederholen sich musikalische Muster. Vorsänger und Chor im ewigen Wechsel. Die Gembri gibt die Basslinie. Die Krakebs klirren. Neue Tänzerinnen erscheinen, vereinzelt auch junge Männer. Schwarze Tücher werden übergeworfen, die Farbe der Mimun, der schwarzafrikanischen Geister. Dann ein abrupter Rhythmuswechsel.
Ein Tänzer geht in die Knie. Der Moqadem hilft ihm wieder auf. Er tanzt weiter. Blau die Tücher, die Farbe des Meeres und des Propheten Moses. Der erste Tänzer fällt um. Man trägt ihn ins Vorzimmer, besprenkelt ihn mit Rosenwasser, bis er erwacht. Ein neues Lied. Eine neue Farbe. Rot. Sidi Hammou, der Schlachter. Der Moqadem hantiert im Tanz mit einem Schlachtermesser. Grün, die Farbe des Propheten und seiner Nachkommen. Dann wieder Schwarz, die Farbe der Geister des Waldes, aber die wagt niemand beim Namen zu rufen.
Die kleine Tanzfläche ist nun wieder ganz in der Hand der Frauen. Die Farbe Gelb. Lala Mira und ihre weiblichen Geister. Das Licht erlischt. Nur die Kerzen flackern. Die Tücher wirbeln herum, fallen zu Boden. Ekstatische Bewegungen, Stöhnen, Schreie …
Im Dämmerlicht sehe ich die „Inderin“. Ihr langes Haar ist jetzt offen, fliegt vor und zurück. Lala Aischa und die dämonischen Geister sind da. Die „Inderin“ kippt nach hinten. Der Moqadem trägt sie hinaus. Bewegungslos liegt sie auf der Matratze. Ihre Lider zucken. In der Trance ist sie bei Lala Aischa, jener Geistfrau, die ihr Leiden verursacht. Für eine Weile wird sie sie besänftigen. Wird sich Erleichterung verschaffen. Auf einmal wünsche ich mich in die Haut dieser Frau. Einmal dem eigenen Quälgeist begegnen, von Angesicht zu Angesicht, um mit ihm ein Stillhalteabkommen zu schließen. Die „Inderin“ wird jetzt gerüttelt, bis sie erwacht. Wer zu lange in kataleptischer Starre liegt, trägt Muskelzerrungen davon. Sie rappelt sich auf. Geht, ohne sich noch umzusehen.
Es ist fünf Uhr in der Früh. Die Zeremonie ist vorbei. Mustafa und ich durchstreifen die leeren Gassen der Stadt. Wir folgen ein paar Fischern in eine Garküche. Zum Minztee serviert man uns Linsensuppe.
Mustafa erzählt, dass keiner der traditionellen Gnawa-Meister in Essaouira, die mit Weltstars wie Cat Stevens, Bob Marley, Carlos Santana zusammen gespielt haben, es je zu Wohlstand brachte. Ich frage nach dem Grund. Ziehen die Plattenkonzerne die Gnawa über den Tisch? Nein, sagt er. Es sind die Gnawa selbst. Ihre Drogen, ihre Rituale. Sie sind zu sehr bei ihren Engeln.