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Archiv-Artikel

Füchschen in Odinsgrund

ELTERN Magischer Realismus und Heimatgeschichte im mythischen Gewand: Lisa Kreißlers doppelbödiger Debütroman „Blitzbirke“

Von Odinsgrund, wo die Familie wohnt, kann sie sich nicht lösen, aber wenn sie dort ist, ist die Heimatlosigkeit übermächtig

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Der Hund liegt unter dem Tisch, mit geschlossenen Augen, die zitternde Zunge hängt aus dem Maul. Füchschen, so heißt der Hund, sei krank, sagt Edda. Nein, entgegnet die Mutter lachend, sie habe Füchschen lediglich ein Beruhigungsmittel gegeben, um den Stress der Feier von ihr fernzuhalten. Edda kocht vor Wut: „Sie hat meine Verbündete ausgeschaltet, damit es ein schöner Abend wird. Wie soll ich jetzt rechtzeitig merken, wenn die Situation aus dem Ruder läuft? Wie kann ich jetzt gewarnt sein.“

Füchschen ist ein hochnervöses Tier; ein feiner Seismograf, der Stimmungen und Schwankungen auffängt, bevor andere etwas bemerken. So funktioniert die gesamte Natur in Lisa Kreißlers Debütroman; alles ist Zeichen, alles ist erfüllt mit Leben und Seele und doch, und das ist das Ungewöhnliche, bleibt es letztendlich auch immer das, was es ist.

„Blitzbirke“ reiht sich ein in ein Muster von Romanen jüngerer Autoren in den vergangenen Jahren. Da ist zum einen das Motiv der Heimkehr von der Stadt auf das Land, die die Protagonistin vollzieht. In diesem Fall ist es Edda, 30 Jahre alt, die gemeinsam mit ihrem neuen Freund Hans, einem Maler, nach Odinsgrund kommt, in das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, gelegen irgendwo an der A 2, jener Autobahn, die Deutschland einmal quer von Westen nach Osten durchschneidet. Zum anderen, auch das ist gängig, lädt Lisa Kreißler ihre Prosa mit Elementen des magischen Realismus auf, ähnlich wie auch zuletzt Annika Scheffel in „Bevor alles verschwindet“. Im Fall von „Blitzbirke“ ist das ein gelungenes Unterfangen. Von Beginn an liegt eine schwelende Atmosphäre des Unguten, ja sogar des Unheilvollen über Odinsgrund.

Kreißler erzeugt eine Doppelbödigkeit zwischen einer mythischen Welt, deren Wurzeln in der Vergangenheit, in der Kindheit und Pubertät der Ich-Erzählerin liegen, und einer gegenwärtigen Heillosigkeit. Denn in Odinsgrund ist vieles nicht in Ordnung: Nicht nur dass Eddas Elternhaus eingerüstet ist und die Renovierung nicht vorankommt, weil Oskar, der Vater, einen Reitunfall hatte. Und nicht nur dass die Mutter sich erst allmählich von einer Krebserkrankung erholt, deren Schatten über dem Haus schwebt und deren Ausgang noch immer ungewiss ist – Eddas Aufenthalt anlässlich des 30. Hochzeitstags ihrer Eltern ist eine unfreiwillige Form der Vergangenheitsbewältigung auf sämtlichen Ebenen.

Die Erinnerungen kommen assoziativ an die Oberfläche, und der tief geerdete Maler Hans, der ein ruhender Pol im Gefühlswirbel ist, bekommt da quasi nebenbei ein blaues Auge verpasst, während „Magic“, Eddas riesiger Onkel, auf seinem Motorrad durch die Gegend düst.

Diese Verquickung der Wahrnehmungs- und Darstellungsebenen hat Lisa Kreißler, geboren 1983 und mithin im gleichen Alter wie ihre Heldin, souverän inszeniert. Kreißler, die unter anderem in Finnland Nordische Philologie studiert hat und nun am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert, entfacht einen Wirbel von Bäumen, Affen, Hunden, Hühnern und Pferden, in dem die Menschen ihre eigene mentale Disposition gespiegelt sehen.

Das deutlichste Symbol von Eddas auswegloser Verstrickung in ihre Herkunft ist die dem Roman seinen Titel gebende Birke, gepflanzt am Tag ihrer Geburt, die derart wuchernde Ausmaße angenommen hat, dass der Vater schließlich keinen Ausweg mehr sah, als sie zu fällen. Eddas Zorn über diese, wie sie es betrachtet, eigenmächtige Handlung ist der Zorn über ein Gefühl der Hilflosigkeit: Von Odinsgrund kann sie sich nicht lösen, aber wenn sie dort ist, ist die Heimatlosigkeit übermächtig. Edda ist im Übrigen von Beruf Schriftstellerin, genauer gesagt Dramatikerin, und so sind in den Text immer wieder Theaterdialoge eingebaut. Das ist geschickt gemacht und hat Wirkung.

Skadi dagegen, Eddas jüngere Schwester, die in Odinsgrund geblieben ist und nun gemeinsam mit ihrem Freund ein altes Schulhaus (Klischee!) gekauft hat, um darin zu wohnen, ist eine schrecklich überzeichnete Figur, deren Leiden an der Welt vollkommen unglaubhaft bleibt. Und vielleicht sollte irgendwer auch einmal jungen Schriftstellerinnen erzählen, dass das Motiv des Ritzens, der Selbstverletzung mithilfe von Rasierklingen, zwar bequem und immer naheliegend, aber mittlerweile auch bereits sehr verbraucht ist. Und an literarischer Fantasie, das zeigt „Blitzbirke“, mangelt es Lisa Kreißler eigentlich nicht.

Lisa Kreißler: „Blitzbirke“. Mairisch Verlag, Berlin 2014, 186 Seiten, 17,90 Euro