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Archiv-Artikel

Das Recht auf Drama Queen

MUSIKTHEATER Zwei Premieren am Wochenende. In den Sophiensælen missglückt die Uraufführung des dritten Teils von „Was wir fühlen“. In der Schaubühne dagegen gelingt „Antigone“ ganz unerwartet formidabel

Die größte zwischenmenschlichen Problemzone: das allzu fest gefügte Ich

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Schaubühne und Sophiensæle, zwei Premieren am vergangenen Wochenende, zweimal Theater mit Musik, Musik mit Theater, Musiktheater. Wovon man sich viel versprach, das floppte. Wovor man ein bisschen Angst hatte, weil man es immer noch merkwürdig findet, wie viele ehemalige Lieblingsbands zu Bühnenbeschallern mutieren, gelang hingegen formidabel.

Zunächst die Enttäuschung. Mit dem dritten Teil zum Thema Glück vollendet die freie Opernkompagnie Novoflot ihren Zyklus „Was wir fühlen“. Mit „Angst“ und „Erschöpfung“ hatte die Truppe um Sven Holm und Malte Ubenauf in den letzten zwei Jahren begeisterungswürdig vorgeführt, wie man mit einem modernen Musiktheater das Format, die Institution und die im Laufe der Jahrhunderte geronnene Essenz von „Oper“ gewitzt reflektieren kann. Als Mash-up aus barocker Affektenlehre, Multimediaspektakel, Musical, Koloraturen und spielerisch inszeniertem Poststrukturalismus nämlich, und zwar mit heiligem Unernst. Das alles war am Freitag irgendwie – weg.

Zwei Sängerinnen, eine Tänzerin, eine Spoken-Word-Performerin – ein Lady-Quartett, das beschließt, in einem Diamantenraub das Glück zu suchen. Der Raub und sein wohl nicht ganz glückliches Ende wird in drei Szenen – für die man auf Wanderschaft durch die Sophiensæle geht – erzählt. Beziehungsweise angedeutet. Und zwar chronologisch rückwärts. Warum auch immer. Es ist ein Rätsel, wie es den Novoflotlern und ihrer Hauskomponistin Aleksandra Gryka passieren konnte, so unvermittelt zurückzufallen in die gesammelten Schrecknisse neueren Musiktheaters: Formalistische Zwanghaftigkeit, musikalisch sämtliche Scheußlichkeiten neuer Klangschöpfung auffahrend (Dauerglissandi! Auf Partituranweisung stöhnende und brüllende Musiker! Hysterisierte Schlagwerk-Soli!), Plot und Texte mit blödem Absichtlichkeitsgestus unverständlich. Alles atmete E-Musik und Hochkultur. Am Ende hatten Novoflot vorgeführt, wogegen sie bislang so spritzig angegangen waren: eine vor lauter Kunstwollen tonnenschwer gewordene, mit Anspruch und Ausdruck völlig überfrachtete Trauerkloßhaftigkeit.

Deutlich erfreulicher gestaltete sich der Abend mit Friederike Hellers „Antigone“ in der Schaubühne. Die Regisseurin hat zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres die Hamburger Band Kante für die Bühne verpflichtet – nach Brechts „Mensch von Sezuan“ jetzt Sophokles. Auf der Bühne nur die Instrumente und ein Männerkreis. Kante-Sänger Peter Thiessen eröffnete als Leiter einer Therapiegruppe den Abend. Mit unendlich sanfter Stimme, aber sublim diktatorischem Habitus wies er Bandkollegen und die beiden Schauspieler in ihre Rollen: die „Antigone“ also als Stoff eines Psychodramas, das eine rein männliche Ü-30-Selbsthilfegruppe zur besseren Erkenntnis innerfamiliärer Konfliktfelder aufführt.

In schönstem „Neue Männer braucht das Land“-Sprech erfolgte Thiessens Dirigat: „Lass dich mal fallen, was wehtut, wird erinnert.“ – „Du bist jetzt Antigone, du Ismene, nehmt die Situation mal an.“ – „Du hast gemerkt, dass du angegriffen worden bist, jetzt sag uns, was du fühlst.“ Derart angeleitet switchen die Schauspieler zwischen den Rollen, während die Band die Mauerschau-Chor-Passagen intoniert. Die Rhythmik und Üppigkeit der Hölderlin’schen Übersetzung bekommt in der Kante-Vertonung einen erstaunlichen Mehrwert (und der sprachliche Duktus der alten Hamburger Schule eine historische Deckel-auf-Topf-Referenz!). Was zunächst noch viel zu dick orchestral aufgetragen wirkt, findet dann später im deliranten „Bacchusreigen“ zu einem großen musikalischen wie auch aussagetechnischen Höhepunkt.

Die beiden Schauspieler bewegen sich behände um das Gravitationszentrum „Band“ herum. Die ostentative Selbstaufopferung Antigones geht einher mit einer Bowie-haften Diva-Werdung des bezaubernden Christoph Gawenda. Das mindestens genauso narzisstische, starrköpfige Festhalten an den eigenen Regeln lässt aber auch Tilman Strauss’ Kreon vor die Wand der Bescheuertheit rennen. Moralisch gewinnt hier niemand. Nur das Transgressive des Dramatischen selbst.

Es ist großartig, wie Silberglitter und Federboas aus den beiden slackrigen Jungs Rollenspieler machen, die der größten zwischenmenschlichen Problemzone auf den Grund kommen: dem allzu fest gefügten Ich. Mögen im Hintergrund dieser Inszenierung Lacan und Butler lauern: Überfrachtet ist sie damit aber nie, immer liegt die Persiflage des eigenen Ansatzes durch die Küchenpsychologie in der Luft – dafür sorgt Peter Thiessen vorbildlich. Es bleibt eine so opulente, glamouröse wie auch heilsame Erkenntnis: jedem das Recht auf Drama Queen!

■ „Was wir fühlen # 3 Glück“, wieder 11./12./13. Februar in den Sophiensælen

■ „Antigone“, wieder 9./11. Februar in der Schaubühne