: „Freie Fahrt für mich“
Erik Stoffer
Bahnhof Friedrichstraße, 12.48 Uhr. Die S 75 nach Spandau fährt sekundengenau ein. Am Steuer: Erik Stoffer, 40 Jahre alt, seit 20 Jahren Triebfahrzeugführer, kurz: TF, ein Grinser, ein Schnutenzieher. In der S-Bahn ist es wie im Schulbus: Während der Fahrt darf nicht mit dem Fahrer gesprochen werden. Deswegen ist ein Ausbilder dabei, der die Strecke und Stoffers Arbeit erklärt. Der TF drückt Knöpfe, wartet Signale ab und lächelt bei den Haltestellen kurz in die Kamera des Fotografen. Links zuckelt erst das Regierungsviertel vorbei, dann Schloss Bellevue, danach der Bahnhof Zoo. Alles läuft nach Plan. Um 13.03 Uhr hält Stoffer am Westkreuz. Ein Kollege übernimmt. Das Interview beginnt
Interview Dominik Schottner
taz: Herr Stoffer, wenn ich in die S-Bahn einsteige, die Sie gerade fahren, muss ich mich auf Sie verlassen, obwohl ich Sie nicht kenne. Warum kann ich Ihnen vertrauen?
Erik Stoffer: Warum mir? Sehe ich so nett und freundlich aus? Sie hätten ja auch ’nen Zug später nehmen können!
Habe ich aber nicht. Ich sitze mit rund 1.000 anderen Fahrgästen in Ihrem Zug. Woher weiß ich, dass Sie uns sicher von der Friedrichstraße zum Westkreuz bringen?
Weil ich die richtige Ausbildung habe. Und weil die Eisenbahn an sich ein sehr sicheres Fahrzeug ist. Unsere Unfallstatistik kann man absolut vernachlässigen.
Sie haben doch bestimmt auch mal einen schlechten Tag. Stress, Krankheit, schlechte Laune. Hat ja jeder. Was merken wir Fahrgäste davon?
Nicht viel. Vielleicht bin ich etwas unfreundlich zu denen, die an meine Scheibe klopfen. Aber das war’s dann auch schon.
Sie fahren dann nicht aggressiver als sonst oder bremsen ruckartig statt sanft?
Doch, das kann sein. Ein bisschen härter bremse ich dann schon. Aber ein Fahrgast fällt deswegen nicht gleich um.
Wünschen Sie sich an solchen Tagen einen anderen Beruf?
Vorstellen kann ich mir das schon. Die Frage ist nur: Welchen Beruf? Hat ja alles seine Höhen und Tiefen. Wenn man den Beruf schon seit 20 Jahren macht wie ich, weiß man eben nicht so recht, was man anderes machen soll. Vielleicht würde man gerne, aber was? Verstehen Sie mich jetzt?
Ich denke schon. Ist Lokführer denn Ihr Traumberuf? Sie kennen ja sicher die Geschichte vom kleinen Kind, das sich als Erwachsener seinen Traum erfüllt und Lokführer wird.
Klar, die kenne ich. Bei mir ist das so. Zusätzlich wurde das mir auch noch in die Wiege gelegt. Vater bei der Bahn, Großvater bei der Bahn. Da ist der Weg schon gekennzeichnet.
Wie verlief der Weg denn bei Ihnen?
Mit der Bahn hat das damals anfangs nicht geklappt. Ich habe eigentlich Elektromonteur gelernt. Doch ich habe ein Ekzem auf der Haut, wo kein Dreck und Schmiere hinkommen dürfen. Also habe ich mich gefragt: Wie geht’s weiter? 1983 dann haben die von der S-Bahn in Ostberlin neue Leute gesucht, und da habe ich mich eben gemeldet. Erst musste ich auf die Schule, danach ging’s in den Schuppen, unter die S-Bahn, mit Dreck und Schmiere und allem, um zu sehen, was an so ’ner S-Bahn alles dranhängt. Doch das ging nur kurz. Dann habe ich die Abschlussprüfung gemacht und wurde auf die Menschheit losgelassen. Das war 1986.
Drei Jahre später fiel die Mauer. Was hat sich seitdem verändert?
Damals wie heute schalten die Signale erst auf Grün, wenn alle Weichen richtig gestellt sind. Damals mechanisch, heute elektronisch. Ansonsten ist natürlich das Gebiet, in dem wir fahren, viel größer geworden.
Würden Sie denn gerne mal einen ICE steuern?
Ja. Oder so ’ne richtige Lok mit Güterzügen, das wäre spannend. Aber eigentlich gibt es keinen großen Unterschied zwischen ’nem ICE und der S-Bahn.
Wie bitte? Der ICE kann doch dreimal so schnell wie die S-Bahn fahren!
Natürlich. Und wir halten auch öfter als der ICE. Aber sonst? Der Lokführer sitzt dort auch vorne und beobachtet die Strecke.
Es ist also kein Traum, einen ICE zu fahren?
Wäre vielleicht mal ein Traum … obwohl, nee, ein Traum ist es nicht. Mal mitfahren, das ja. Aber selber fahren, nee, das reizt mich nicht.
Wie fährt sich denn eine Tram oder eine U-Bahn im Vergleich zu einer S-Bahn?
Die U-Bahn fährt sich bestimmt ähnlich. Läuft ja auch auf Schienen. Die Straßenbahn zwar auch, aber da muss man ja auch immer noch den Straßenverkehr beachten. Der stört mich ja schon, wenn ich im Auto fahre. Wie soll das dann in der Straßenbahn sein? Nein, das ist nichts für mich. Das ist mir zu viel. Dauernd rote Ampeln.
Sie sind ziemlich verwöhnt von der S-Bahn.
Richtig. Wenn ich da komme, ist grün. Und das bleibt auch so lange grün, bis ich vorbei bin.
Aha, Sie sind also tief im Herzen ein Raser? Oder eher nach dem Motto: Freie Fahrt für freie …
… für mich. Freie Fahrt für mich. Genau.
Dann würde Ihnen doch der Job des ICE-Lokführers gefallen. Überlegen Sie mal: von München nach Nürnberg in einem Ritt durch, mit 300 Stundenkilometern, ohne anzuhalten. Traumhaft!
Da bin ich aber nicht mehr zu Hause, hier in Berlin. Meine Freundin sieht das wahrscheinlich nicht so gern, wenn ich lange weg bin. Wobei: Manchmal kann das auch eine Beziehung bereichern. Nicht falsch verstehen jetzt!
Klar. Arbeiten Sie auch nachts?
Sicher. Die Frühschicht fängt um halb vier Uhr morgens an und dauert bis mittags um zwölf.
Wie oft hat es schon Verspätungen gegeben, weil Sie verschlafen haben?
Nie. Sollte das passieren, gibt es immer einen Bereitschaftsdienst, der einspringt.
Lokführer sind also nicht schuld an den Verspätungen?
Richtig.
Wann arbeiten Sie denn am liebsten?
Irgendwann während der Spätschichten zwischen zehn Uhr morgens und Mitternacht. Da ist man in der Regel schön ausgeschlafen. Man sieht was von der Gegend und vor allem: die Leute auf den Bahnsteigen.
Die schauen Sie sich besonders gerne an? Wo kann man denn am besten gucken?
Auf der sogenannten Stadtbahnstrecke vom West- zum Ostkreuz, durch das Regierungsviertel. Da sieht man dann mal so einen Chaoten hier, dann läuft da drüben einer rum. Der hat das an, die das. Dann steht da mal ein ICE, daneben ’ne Regionalbahn, vier Gleise, alle belegt. Das mag ich. Und deswegen ist das auch meine Lieblingsstrecke. Nach dem Ostkreuz geht’s weiter raus nach Strausberg. Das ist dann auf eine andere Art schön. Da wird es ruhiger und grün. Ab Hoppegarten wird die Strecke dann eingleisig. Da wohne ich auch.
Welche Strecke strengt Sie am meisten an?
Eine gute Frage. Da könnte ich jetzt ’ne spitze Bemerkung machen. Mach ich aber nicht.
Doch, machen Sie mal!
Lassen Sie es mich so sagen: Das Anstrengendste ist die Prüfung im Simulator, die wir einmal im Jahr machen. Der verlangt einem alles ab.
Welche Strecke ärgert Sie am meisten?
Keine. Ich fahre überall lang in Berlin.
Und was ist mit dem Wetter? Lieber Sonne? Regen? Schnee?
Ich hasse Dauernieselregen. Immer diese Scheibenwischer vor der Nase! Fürchterlich!
Wie finden Sie eigentlich den neuen Hauptbahnhof?
Das ist ein Bahnhof wie jeder andere auch. Ich halte an, ich fahre weiter. Interessant wäre es vielleicht, wenn man unten einfahren könnte, durch den Tunnel, dann sähe man die Galerie. Aber: Geht ja nicht.
Was ist denn der Unterschied zwischen Fahren im Tunnel und Fahren draußen?
Im Tunnel dürfen wir nur zwischen 40 und 60 Stundenkilometern fahren. Das ist schon mal ein Unterschied. Und dann hat man natürlich so ein Gefühl, eingesperrt zu sein. Da fragt man sich schon mal: Was mache ich jetzt, wenn was schiefläuft? Der Gedanke ist aber ganz weit hinten im Kopf.
Mussten Sie schon mal ungeplant im Tunnel anhalten?
Ja, einmal, als ein Leitungsschutzschalter rausgefallen ist. So eine Art Sicherung für den Stromkreis. Das war kurz vor dem Bahnhof Yorckstraße. Der Zug ist daraufhin sofort stehengeblieben. Ich habe dann in der Betriebsleitung angerufen und gefragt, ob ich die Strecke sperren soll. Musste ich aber nicht. Und dann habe ich einfach die Sicherung wieder reingemacht und bin weitergefahren.
Ach, die kann man einfach so mit der Hand wieder reinmachen?
Ja, ist wie ’ne Sicherung zu Hause.
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Berichterstattung über Menschen, die sich vor Züge werfen, um sich selbst zu töten, eine Menge Nachahmer auf den Plan ruft. Wir haben deshalb vereinbart, das Thema heute auszuklammern. Gab es andere brenzlige Situationen in Ihrer Laufbahn? Ist Ihnen vielleicht mal ein Reh oder ein Hirsch vor die Bahn gelaufen?
Wild hatte ich schon, ja. Hat aber den Sprung noch geschafft.
Worüber freuen Sie sich jeden Tag, wenn Sie in den Führerstand steigen?
Das ist schön ausgedrückt. Ich glaube, es ist eine gewisse Freiheit. Freiheit in Anführungsstrichen. Ich bin Chef der Technik. Die macht, was ich will. Der Computer sagt nicht: „Ich habe noch nicht ausgeschlafen.“
Und wenn die Technik mal doch nicht das macht, was Sie ihr befehlen, dann, nehme ich an, sprechen Sie auch mit der Technik?
Da wird erst mal gestreichelt, genau. Dann probieren wir es noch mal.
Haben Sie denn eine Art erotisches Verhältnis zu Ihrer Bahn?
So ein Verhältnis habe ich nicht mehr. Am Anfang faszinierte mich die Technik. Heute hat der Computer das meiste übernommen. Früher haben wir den Führerstand auch noch geputzt, Staubwischen und so. Heute nicht mehr.
Ist Ihre Arbeit langweiliger geworden?
Teilweise. Aber es ist immer noch interessant. Die Bewegung. Immer unterwegs sein. Im Büro will ich nicht arbeiten.