: Das Grauen in Tüten
Genial, zerflötet und verfemt: Der Wahl-Hamburger Georg Philipp Telemann war der produktivste Musiker seiner Zeit, und galt ihr als größtes Genie. Bevor er zum Opfer der Schulmusik wurde, diffamierten ihn die Nationalisten – weil er zu weltoffen war
Sie lieben große Zahlen? Dann ist Georg Philipp Telemann der Komponist ihres Herzens. Über 3.600 Kompositionen hat der 1681 in Magdeburg geborene, 1767 in Hamburg gestorbene Tonsetzer geschaffen. Nicht alles ist toll: Und mitunter scheint es, als hätten böswillige Überlieferer gerade die schwächsten seiner Werke in den Vordergrund gespielt. Um ihn zu diffamieren.
Telemann war über die Stationen Sorau, Eisenach und Frankfurt 1721 nach Hamburg gekommen und wirkte dort zunächst als Kantor des Johanneums, später als Operndirektor, nebenher auch als Verleger. Dabei war er stets offen für unterschiedlichste Einflüsse: Er integrierte polnische Volksmusik und pflegte den Austausch mit der höfischen französischen Musik. Die Bewunderung seiner Zeitgenossen war extrem. Allerdings auch extrem schnell verflogen: Kurz nach seinem Tod begann die Diffamierung als Vielschreiber, das 19. Jahrhundert hetzte gegen seine Frankreich-Liebe: „Deutsch von Natur wollte sein Geist auch einen deutsch-ernsten, einen wahrhaft charakteristischen Aufschwung nehmen, aber in französischem Treibhause groß gezogen, ist er eine Bastardnatur geworden“, derlei schrieb man ab 1838 über 100 Jahre lang. Abgeschmackt! Ein Genie der flachsten Art! Trivial! Leichtfertig! Die deutschen Musikologen prügelten mit einer leicht durchschaubaren Frankreich-Typologie auf den Weltbürger ein – und ganz verflogen ist der nationalistische Furor bis heute nicht.
Hinzu kam, dass Telemanns Werke sehr genau auf die klanglichen Möglichkeiten einzelner Instrumente hin komponiert, und ungemein spielbar sind.
Der arme Telemann! Dass sich das Instrumentarium zum 18. Jahrhundert hin rapide veränderte, hätte er allerdings ahnen können. Er selbst trieb energisch Neuentwicklungen voran – die moderne Bratsche zum Beispiel, für die er das erste Konzert ever heard schrieb. Auch den Trend zur Hausmusik hat er massiv befördert. Die klanglichen Ergebnisse allerdings, die eine für Schüler technisch machbare Aufführung seiner Blockflötenwerke zeitigen kann, ist auch Folge eines Verlusts von Spielkultur: „Das Grauen in Tüten“, nennt Hille Perl das. Und das trifft es leider sehr genau.
Daran hingegen ist er persönlich wenigstens einmal schuldlos. Im Gegenteil: Er hat versucht die barocke Phrasierungskunst in „methodischen Sonaten“ für Streichensembles mit wechselnder Besetzung weiterzugeben. In denen notierte er – unüblich, unüblich – Verzierungsvorschläge und Varianten in den Stimmen. Erst spät hatte er damit Erfolg: Für die Alte Musik-Bewegung des 20. Jahrhunderts wurden diese Sonaten zu einer wichtigen Quelle bes
Telemann hören: Hille Perl / Petra Müllejans /Freiburger Barock Orchester „Concertos for Viola da Gamba“ Sony BMG, 2006