Ganz anders authentisch

POP Manuel Jungclaussen alias Sierra Kidd ist 17 und an HipHop-Klischees nicht interessiert – jetzt kommt sein Albumdebüt

VON THOMAS WINKLER

In den Berliner Straßen stößt man derzeit auf Plakate, die junge Menschen über die Gefahren der Autoimmunkrankheit Aids aufklären sollen. Auf einem der Plakate ist ein junger Mann zu sehen, ein sehr junger Mann mit einem weichen Gesicht und einem kecken Hütchen auf dem Kopf. Der junge Mann verschränkt die Arme, blickt halb ernst, halb lächelnd den Betrachter an und verspricht, es nur mit Kondom zu tun.

Diese Plakate kennt Manuel Jungclaussen gar nicht, sagt er, und er trägt auch kein Hütchen. Aber er sieht dem jungen Mann auf dem Plakat sehr ähnlich. Auch er ist ein verantwortungsvoller junger Mann. Er trinkt nicht, er raucht nicht, er nimmt keine Drogen, er flucht nicht und, so darf man vermuten, auch er tut es sicher immer mit Kondom. All das ist schon außergewöhnlich, weil er erst 17 Jahre alt ist. Es ist aber geradezu sensationell, weil Manuel Jungclaussen, so vermutet es nicht nur seine Plattenfirma, sondern auch die Fachpresse, vor einer großen Karriere als Rapper steht.

Dass Sierra Kidd, wie sich Jungclaussen nennt, kein Rapper ist, der die üblichen Klischees des Genres erfüllt, ist nun erstmals auf Albumlänge nachzuhören. „Nirgendwer“ heißt das Debüt des jungen Mannes, der seit Mai im Friedrichshain in seiner ersten eigenen Wohnung lebt. Einige der Lieder, so die aktuelle Single „Knicklicht“, erwecken bei oberflächlichem Hören den Eindruck, so fluffig ist ihr Sound, so eingängig sind ihre Melodien, als wollte Sierra Kidd auf der aktuellen Welle surfen, die ein Cro anführt: Harmloser Rap für Jugendliche aus guten Hause als Erholung von den kleinkriminellen Schreckgespenstern mit Migrationshintergrund, die bis vor kurzem den deutschen HipHop dominierten.

Weit weg vom Gangsta-Rap

Vom Gangsta-Rap ist Jungclaussen denkbar weit entfernt, aber auch von den aktuellen Pop-Rappern setzt er sich ab. Beim genaueren Hinhören fällt schnell auf, dass Sierra Kidd nicht nur ein für sein Alter technisch unglaublich versierter Rapper ist und mit Sprache erstaunlich souverän umgeht, sondern auch noch etwas zu erzählen hat. Seine Raps durchzieht eine dunkle, wenn man will: depressive Grundstimmung. Natürlich berichtet er in seinen Songs aus der Lebenswirklichkeit seiner Generation, ist das Smartphone ständiges Ausstattungsstück aller Geschichten, aber im Gegensatz zu seinen Kollegen spricht er nicht von Sex, sondern von Liebe und komplexen Beziehungen, nicht über Parties, sondern von Einsamkeit und einem Leben als Außenseiter. „Hinter meine Lieder soll man gucken können“, sagt Jungclausen, „da steckt eine Geschichte drin.“

Immer wiederkehrende Themen sind Mobbing und Gewalterfahrungen. Jungclaussen erzählt zwar poetisch verklausuliert, aber inhaltlich unverblümt, wie er selbst zum Opfer geworden ist – und das kann man getrost als Sensation bezeichnen. Denn schließlich ist HipHop, daran hat auch der aktuelle Trend zur Teenie-Bespaßung nichts Grundsätzliches verändert, wohl das allerletzte popmusikalische Genre, in dem das Zugeben von Schwäche ein akzeptiertes Stilmittel ist.

Dabei, das kann man durchaus ironisch verstehen, folgt Sierra Kidd doch nur einer anderen, der wohl wichtigsten Maßgabe des Rap: dem Authentizitätsgebot. Jungclaussen erzählt nur, was er alles selbst erlebt hat, als er in Emden aufwuchs als ältestes von sieben Kindern einer alleinerziehenden Mutter am Randes Existenzminimums. Falsche Herkunft, billige Klamotten, keine Zeit für Parties, weil er sich um die kleinen Geschwister kümmern musste: der kleine Manuel war nicht nur ein Außenseiter, sondern Spielball seiner Altersgenossen. Ein älterer Song heißt „Suizidszenario“. Auf dem Cover seines Albums ist er zu sehen im Alter von fünf Jahren inmitten seiner Kindergartengruppe, die Gesichter der anderen Kinder übermalt mit Fratzen.

Mit zwölf Jahren begann Jungclaussen seine unguten Erfahrungen in der friesischen Provinz in ersten Gedichten und Raps zu verarbeiten. Der erste Kontakt zum HipHop kam über den Plattenschrank des Vaters, der die Familie verließ, als Jungclaussen 8 Jahre alt war. Manche dieser frühen Reime und Ideen finden sich auf dem Album „Nirgendwer“, das zwar ganz selbstverständlich eine jugendliche Perspektive einnimmt, aber trotzdem unglaublich abgeklärt und reif klingt. „Meine Musik soll so langlebig wie möglich sein“, sagt Jungclaussen, der vom HipHop kommt, aber heute Philipp Poisel „super“ findet und einen Clueso für „einen großen Künstler“ hält.

Beschimpft, beliebt

Wenn man so will, ist Sierra Kidd also der Junge Milde des deutschen Rap. Damit wird man ihm zwar nur bedingt gerecht, aber die mittlerweile reflexhaften Verunglimpfungen aus der HipHop-Szene hat er sich dafür schon eingehandelt. Im Internet wird er als „Schwuchtel“, „minderwertiges Wesen“ oder „hässlicher untalentierter Vollspast“ beschimpft. Verletzen, sagt er, würde ihn das nicht: „Das kenne ich doch alles schon von früher.“

So sehr ihn die traditionelle HipHop-Szene ablehnt, so sehr lieben ihn seine Fans, die, so vermutet nicht nur er, „sich in meinen Texten wiedererkennen können“. Sein erstes Mini-Album „Kopfvilla“ stieg Ende 2013 immerhin bis auf Platz 43 der Charts, in diesem Sommer spielt Sierra Kidd mit seiner Band auf den großen Sommer-Festivals.

Nein, Jungclaussen ist nicht der typische Jugendliche, der es kaum erwarten kann, im September 18 zu werden, um richtig einen drauf zu machen. Nach Berlin ist er, nachdem er seine mittlere Reife geschafft hatte, nur aus pragmatischen Gründen gezogen, weil Label und Management hier ihren Sitz haben. „Ich will jetzt das Momentum nutzen, um mir meinen Traum zu erfüllen.“ Er arbeitet fleißig, liefert gerade fast jeden Tag einen neuen Track ab. Vom Berghain hat er noch nie etwas gehört und in einem Hauptstadt-Club war er erst ein einziges Mal. Stattdessen fährt er so oft es geht nach Hause, zu Mutter und Geschwistern nach Emden. Die sind stolz auf ihn. „Meine Mutter findet die Platte ganz toll“, erzählt er, „aber sie sagt auch, ich soll doch ein bisschen fröhlicher sein.“ Da hat sie recht. Gründe dafür hat Manuel Jungclaussen genug. Aus diesem Sierra Kidd wird mal was.

■ Sierra Kidd: „Nirgendwer“ (Indipendenza/ BMG Rights/ Groove Attack). Live: 12. 7. Energy-in-the-Park-Festival, Wannsee