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Archiv-Artikel

„Der Seemann hat kulturell keinen Nachfolger“

Der Beruf des Seemanns hat in der populären Kultur eine steile Karriere hingelegt. Woher aber kommen die Bilder, die den Seemann so interessant für den Pop gemacht haben? Volkskundler Timo Heimerdinger über Flottenpropaganda, Erotik und Termindruck

taz: Herr Heimerdinger, kaum ein Beruf ruft so viele Vorstellungen wach wie der des Seemanns. Wie ist das gekommen?

Timo Heimerdinger: Die inhaltliche Befrachtung der Seemannsfigur im Rahmen gezielter Propaganda begann Ende des 19. Jahrhunderts mit zwei großen Kampagnen der evanglischen deutschen Seemannsmission und der kaiserlichen Flottenpropaganda. Es ging in beiden Fällen darum, Geld zu beschaffen: Man wollte den Seeleuten durch den Aufbau der Seemannsmission helfen, das war ein Aspekt der sozialen Frage im 19. Jahrhundert. Bei der Flottenprogaganda ging es um den Bau von Kriegsschiffen. Da war es nötig, die Idee von der starken Flotte populär zu machen, um den immensen finanziellen Aufwand im Parlament bewilligungsfähig zu machen.

Welche Seemanns-Bilder wurden bei diesen Kampagnen vermittelt?

Bei der Seemannsmission war der Seemann eine moralisch diskreditierte Figur: Er wurde dargestellt als einer, der sich schwer tut, den Werten der inneren Mission – Familie, Kirche, Vaterland – zu entsprechen. Bei der Flottenpropaganda haben wir ein entgegengesetztes Bild: Da war der Marinesoldat der Repräsentant des vor Selbstbewusstsein strotzenden Deutschen Reiches. Er war jung, unter einem militärischen Männlichkeitsideal gefasst, sportlich, diszipliniert, weit gereist – die Idealfigur des Muster-Untertanen.

Wie hat sich ausgehend von diesen beiden Positionen die enorme Karriere des Seemanns in der Popkultur ergeben?

Die beiden Positionen markieren erst mal Extrempunkte. Mit ihnen waren weltanschaulich klar angesiedelte Bilder erzeugt worden, die dann verfügbar wurden für die populärkulturelle Aufarbeitung. Später werden die Elemente dann sehr bunt, fast schon beliebig gemischt: Das militärische Element des Matrosenanzugs wird vom militärischen Kontext gelöst, es wird ein Modeelement und später beispielsweise kombiniert mit der Erotik. Das ist dann wieder etwas, das bei der Seemannsmission eine Rolle gespielt hat: Der Seemann als jemand, der sexuell sehr aktiv ist.

Die meisten Stars unter den Seemännern wie Hans Albers oder Freddy Quinn scheinen der Nachkriegszeit anzugehören. Spielt der Seemann in der aktuellen populären Kultur überhaupt noch eine Rolle?

Ja, er ist nach wie vor ein sehr häufig zu beobachtendes Bildmuster. Nach dem Krieg hat der Seemann in seiner Ambivalenz von Fernweh und Heimweh sicherlich eine besondere Popularität gehabt. Aber es ist nicht zu beobachten, dass die Figur verschwinden würde: Die Seemannsfigur findet zum Beispiel in Werbekampagnen, sei’s von Parfüm- oder Kondomherstellern, immer wieder Eingang. Wobei die Bildmuster jeweils dem aktuellen Publikum und dessen Bedürfnissen angepasst werden.

Welche Seemann-Klischees haben aktuell am meisten Konjunktur?

Was sich sehr stark etabliert hat, ist die homoerotische Darstellung des Seemanns: Die Bildikonen von Pierre et Gilles beispielsweise sind momentan sehr populär. Aber auch die anderen Aspekte des Seemanns, das überbordende Leben, die körperliche Kraft, die Auseinandersetzung mit den Naturgewalten sind zeitlose Motive, die nicht verschwinden.

Sie haben für Ihr Buch „Der Seemann – Ein Berufsstand und seine kulturelle Inszenierung“ auch mit pensionierten Seemännern gesprochen. Welche Rolle spielten in deren Berufsleben die Seemannsklischees, die in der Popkultur unterwegs sind?

Jemand, der den Seemannsberuf selbst ergriffen hat, kommt an den Klischees nicht vorbei. Ich habe da eine Doppelwirkung feststellen können: Einerseits grenzen sie sich gegenüber dem negativen Klischee stark ab und sagen: „Wir waren unseren Frauen immer treu und haben keinen Alkohol getrunken.“ Andererseits werden im weiteren Gespräch einzelne Elemente des populären Bildes aber doch wieder bestätigt. Sie sagen dann: „Naja, wir waren damals jung und natürlich haben wir was erlebt.“

Haben die Klischees für heutige Berufseinsteiger noch eine Bedeutung?

Nein. Wer heute den Seemannsberuf ergreift, steht in einer anderen Situation: Auf Mannschaftsebene gibt es eigentlich kaum noch deutschsprachige Seeleute und auch im Offiziersrang wissen die Leute sehr genau, dass es ein Beruf ist, der sehr viel mit Termindruck zu tun hat, mit technischen Abläufen und Computerarbeit an Bord. Da ist von der Romantik nichts geblieben.

Gibt es einen Beruf, in dem die romantischen Ideen des Seemann-Berufs heute weitergelebt werden?

Es gibt einige Berufe, die die Idee vom polyglotten Unterwegs-Sein, von der Ortlosigkeit transportieren: Der Pilot oder der international agierende Manager. Aber in der Kombination aus Weitgereistheit, dem körperlichen Aspekt und der Auseinandersetzung mit der Natur glaube ich, dass der Seemann kulturell bislang keinen Nachfolger gefunden hat.Interview: Klaus Irler

Timo Heimerdinger hält heute um 19 Uhr im Hamburger Museum für Arbeit einen Vortrag zum Thema „Populäre Seemannsbilder. Ein Berufsstand und seine kulturelle Verarbeitung“. Wiesendamm 3, 22305 Hamburg