: Religiöser Atheismus
PHILOSOPHIE Bereitschaft zu selbstgenügsamer Schwärmerei? Ronald Dworkins nachgelassene Schrift „Religion ohne Gott“ ist nichts für existenzielle Atheisten
Der 2013 verstorbene Ronald Dworkin zählt zu den wichtigen Philosophen unserer Epoche. Nun ist aus dem Nachlass ein Buch erschienen, in dem der Amerikaner für die von ihm verfochtene Form von Atheismus – einem Atheismus, der die Objektivität von Werten anerkennt – den besonderen Glanz, der einer religiösen Weltsicht eigen ist, reklamiert. Der Buchtitel „Religion ohne Gott“ erweckt allerdings sogleich Misstrauen: Soll die bei alkoholfreiem Bier und koffeinfreiem Kaffee erfolgreich angewandte Idee, ein Produkt anzubieten, dem man ausgerechnet den Erregungsstoff, um dessentwillen es normalerweise konsumiert wird, entzogen hat, nun auch auf den Weltanschauungssektor Anwendung finden?
Chemisch zerlegt
Um zu begründen, dass „religiöser Atheismus“ kein Widerspruch in sich selbst ist, unterzieht der analytisch versierte Dworkin die traditionellen Religionen einer fast chemischen Zerlegung. Zwei Komponenten trennen sich unter seinem Blick: erstens die Wertekomponente, die er als Glauben an die objektive Realität des moralisch Guten und an die Geordnetheit und Schönheit des Universums definiert. Zweitens eine von ihm „Wissenschaft“ genannte Komponente: eine Erklärung für die Existenz der Welt, die die Religionen – in der Regel durch Einführung eines Schöpfergottes – bieten. Diese zweite Komponente, durch die Religion erst zum Theismus wird, hat für ihn nichts mit dem Wesen des Religiösen zu tun: mit der Offenheit dafür, dass die Welt nicht nur ein Teilchenhaufen, sondern Ereignisstätte sinnhaltiger Werte ist.
Überzeugend ist Dworkin, wenn er daran erinnert, dass zur Zurückweisung des postmodernen Werterelativismus keineswegs ein Deus ex Machina nötig ist. Seine Verbindung von Glauben an absolute Werte und liberaler Haltung ist sympathisch: Er schlägt vor, das Recht auf Religionsfreiheit als generelles Recht auf „ethische Unabhängigkeit“ zu interpretieren. Der Staat dürfe niemals ein Verhalten deswegen untersagen, weil er es als schändlich, sondern allenfalls, weil er es als schädlich erachtet.
Wenn Dworkin allerdings meint, dass der von ihm postulierte religiöse Atheismus ein den theistischen Religionen vergleichbares Weltgeborgenheitsgefühl aufkommen lassen kann, setzt das die Bereitschaft zu selbstgenügsamer Schwärmerei voraus. Unter Berufung auf Albert Einstein versucht er zu zeigen, dass auch Atheisten eine dem Regress unendlichen Weiterfragens Halt gebietende „Unausweichlichkeit und Notwendigkeit“ empfinden können. Die von der modernen Physik angepeilte Weltformel scheint ihm analog zu dem definitionsgemäß absoluten Gott einen „Schutzschild“ gegen weitere Warum-Fragen zu enthalten: Da Kausalität nicht über die Grenzen des Universums hinaus „exportiert“ werden könne, sei aus „begrifflichen Gründen“ bei dieser Formel die Frage, warum sie denn so beschaffen sei, „gewissermaßen untersagt“.
Man muss schon mehrere Jahrzehnte seines Lebens Professor gewesen sein, um zu glauben, dass solche Diskursregeln auch außerhalb eines Hörsaals die Diskussion beenden. Das Quantum Religiosität, das Dworkin seinem Atheismus einflößt, so scheint es, besteht letztlich darin, dass er bereit ist, die Unmöglichkeit weiterer Antworten nicht als Ausweglosigkeit, sondern als das behagliche Gefühl, eine Schlusslinie erreicht zu haben, empfindet. Existenzielle Atheisten wie Albert Camus, für die der Salto mortale in eine Pseudoreligion nicht infrage kommt, würden Dworkin entgegenhalten: Das Schweigen des Universums antwortet nicht auf unser Sinnbegehren, setzen wir ihm also den Stolz unserer Revolte entgegen. CHRISTOF FORDERER
■ Ronald Dworkin: „Religion ohne Gott“. Deutsch von Eva Engels. Suhrkamp, Berlin 2014, 146 Seiten, 19,95 Euro