: Jukebox
Total verrückt: Let 3 aus dem kroatischen Rijeka
„Die sind total verrückt!“, fasste meine 13-jährige Tochter letzten Sommer einen Auftritt von „Let 3“ (Flug 3) zusammen. Eine bessere Beschreibung von Sound und Appearance der Band aus dem kroatischen Rijeka gibt es nicht.
Let 3 produzieren fein gewirktes musikalisches Chaos – und sie sind eine ästhetische Provokation. Auf der soliden Basis von Punkrock spielt die Band hemmungslos mit Parolen und Symbolen des alten, kommunistischen Jugoslawiens und seiner ethno-national fundierten Nachfolgestaaten. Die Musiker betreten die Bühne in bunten Ganzkörperkondomen, ziehen sich aus und dann wieder an: in Uniformen der verblichenen Jugoslawischen Volksarmee. Auf Promo-Fotos, Flyern und Postern stehen die südländisch behaarten Bandmitglieder mit langen, angeklebten Schnauzbärten vor der Kulisse der blauen Adria. Dabei tragen sie weiße Lämmer auf den Schultern. Und Hundemaulkörbe vor den Genitalien.
Aufgefallen ist mir Let 3 erstmals 1994. Der Titel des dritten Albums „Peace“ passte bestens in die Zeit: Vier Jahre zuvor war Jugoslawien zerfallen. Ein Drittel Kroatiens war serbisch besetzt bzw. befreit, je nachdem, von welcher Seite aus man das betrachtete. Im benachbarten Bosnien herrschte Krieg. Serbien wurde von einer Wirtschaftskrise gebeutelt, die ein normales Leben unmöglich machte.
Rijeka ist zwar weit entfernt von Bosnien und Serbien. Aber die alte Industrie- und Hafenstadt an der Adriaküste hat schon immer Migrationen angezogen. Auch im vorerst letzten Krieg auf dem Balkan war Rijeka Sammelpunkt für Flüchtlinge aus verschiedensten Teilen Exjugoslawiens. Auf „Peace“ wirken denn auch Musiker mit sehr unterschiedlichen kulturellen Backgrounds mit, etwa eine traditionelle dalmatinische „Klapa“-Gesangsgruppe oder eine Roma-Band. Zudem singen Let 3 Textteile auf Italienisch – eine Reminiszenz an die Tatsache, dass ihre Heimatstadt bis 1947 Fiume hieß und zu Italien gehörte.
Heute merkt man Let 3 ihre über zwei Jahrzehnte Bühnenerfahrung genauso an wie den nach wie vor starken Hang zu Performance und Theater. Dass wir uns das nun am Sonntag erstmalig in Berlin ansehen und -hören dürfen, ist „Balkan Beats“ (www.balkanbeats.de) zu verdanken. DJ Soko & Co. übernehmen nach dem Gig zudem die Beschallung mit ihrem immer wieder unfassbaren Mix aus Gipsy- und Ethno-Sounds und jugoslawischen Rock-, Punk- und Ska-Klassikern.
Das wird spät. Und total verrückt. RÜDIGER ROSSIG