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Archiv-Artikel

„Geringerer Lohn würde akzeptiert“

Wer nur 750 Euro monatlich verdient, soll keine Sozialabgaben mehr zahlen. Effekt: Rund 900.000 Menschen könnten ohne Arbeitslosengeld II auskommen – verspricht das Kombilohn-Modell von Arbeitsmarktforscher Ulrich Walwei

taz: Herr Walwei, Ihr Kombilohn-Modell macht Karriere – sogar die Experten im Bundesarbeitsministerium scheinen überzeugt zu sein. Würde die Regierung etwa Geld sparen?

Ulrich Walwei: Nein, unser Konzept der „negativen Einkommenssteuer“ hätte Einführungskosten von etwa 3 bis 4 Milliarden Euro jährlich.

Warum ist das Arbeitsministerium trotzdem angetan?

Beispielsweise würden die Jobcenter entlastet. Sie müssten sich nicht mehr um all jene Arbeitnehmer kümmern, die einen Job haben und dennoch so wenig verdienen, dass sie Arbeitslosengeld II beziehen. Das sind etwa 900.000 Menschen.

Viele Kombilohn-Modelle sind schon gescheitert. Warum sollte Ihres funktionieren?

Lassen Sie mich erst einmal das Modell erklären. Wer mindestens 30 Stunden pro Woche arbeitet und monatlich weniger als 750 Euro brutto verdient, der müsste dann keine Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung zahlen. Brutto wäre wie netto. Damit bräuchten diese Leute kein ergänzendes Arbeitslosengeld mehr. Bis zu einem Monatslohn von 1.300 Euro steigen die Beiträge zur Sozialversicherung langsam bis zum Normalsatz an. Das gilt aber nur für Bedürftige.

Also ohne reichen Ehepartner.

Und ohne Vermögen, das Erträge abwirft.

Eine selbstgenutzte Eigentumswohnung wäre kein Hindernis?

Das haben wir in der Analyse nicht berücksichtigt, das notiere ich mir als interessante Frage.

Wenn jemand jetzt einen Minijob für 400 Euro hat und nebenher Arbeitslosengeld II bezieht, dann steht er sich doch besser, als wenn er nach Ihrem Modell mindestens 30 Stunden wöchentlich für 750 Euro monatlich arbeitet. Mehr Arbeit für dasselbe Geld – wo ist da der Anreiz?

Wir wollen die Privilegierung der Mini- und Midijobs abschaffen. Bisher werden sie vor allem mit Schülern, Studenten, Hausfrauen und Rentnern besetzt. Minijobs sind auch eine Form der Subvention, aber damit werden vor allem Gutsituierte gefördert und nicht so sehr Bedürftige.

Momentan gibt es 6,7 Millionen Minijobs. Der Einzelhandel klagt, dass ohne Minijobs Geschäfte schließen müssten.

Das kann nicht sein. Andere Länder wie Großbritannien haben keine Minijobs und trotzdem einen florierenden Einzelhandel. Wir schaffen nicht die Jobs ab, wir schaffen das Minijob-Privileg für Gutsituierte ab.

Und wie viele Stellen entstehen durch Ihr Modell?

Das haben wir nicht untersucht, das war nicht Teil unseres Auftrags. Aber die Wechselwirkungen sind extrem komplex. Es könnte sein, dass – nach Köpfen gezählt – weniger Arbeit herauskommt, wenn mehrere Mini-Jobs zu einer Beschäftigung mit Sozialversicherungszuschuss zusammengefasst würden.

Wenn Sie nicht genug Stellen schaffen, dann stehen viele Arbeitslose hinterher schlechter da, weil Sie gleichzeitig die Minijobs streichen wollen.

Unser Modell würde viele Niedrigqualifizierte konzessionsbereiter machen. Sie würden geringere Löhne akzeptieren, weil sie ja netto trotzdem mehr behalten. Dadurch könnten neue Beschäftigungsfelder entstehen, zum Beispiel in Haushalten.

Das klingt wie Lohndumping.

Deswegen enthält unser Vorschlag einen gesetzlichen Mindestlohn, der bei 4,50 Euro die Stunde liegt. Das entspricht mit unserem Sozialversicherungszuschuss in etwa 750 Euro im Monat bei 40 Wochenstunden. So werden die Sozialsysteme vor der Ausbeutung durch die Unternehmer geschützt. Schon jetzt gehen in Ostdeutschland viele Firmen davon aus, dass niedrige Löhne von den Arbeitsämtern bezuschusst werden.

Die Arbeitgeber wollen Sie nicht entlasten und dort auch die Sozialbeiträge erstatten?

Das würde nichts bringen, denn man könnte nicht erkennen, ob die Neueingestellten bedürftig und die Jobs zusätzlich sind.

Die Union schlägt aber so ein Kombilohn-Modell vor: Droht ein neuer Koalitionsstreit?

Die Modelle schließen sich nicht aus, denn das der Union richtet sich an Gruppen, die besonders schwer zu vermitteln sind, wie etwa Ältere oder Jugendliche.

Erzeugen Sie nicht eine neue Schicht der Working Poor, die bei voller Berufstätigkeit trotzdem nur knapp über dem absoluten Existenzminimum leben?

Ich bin da nicht so pessimistisch. Die Betroffenen müssen nicht im Niedriglohnbereich bleiben; es gibt eine Aufstiegsmobilität.

Aber Ihr eigenes Institut, das IAB, hat gerade nachgewiesen, dass sich nur ein knappes Drittel der Niedriglöhner aus diesem Ghetto befreien kann.

Das IAB macht aber auch Bildungsforschung: Kinder müssen erleben, dass ihre Eltern regelmäßig zur Arbeit gehen, sonst haben sie gewaltige Entwicklungsprobleme.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN