: Weichmacher im Tourbullen
RADSPORT Alberto Contador hat offensichtlich gedopt – ohne Konsequenzen. Einmal mehr zeigt Europas führende Sportnation ein eigenartiges Korruptionsverständnis
VON TOM MUSTROPH
Das Mutterland des Kolonialismus hat Sinn für Hierarchien. Während Nordafrikas Völker sich ihrer Pharaonen entledigen, zählt gleich hinter dem Gibraltar weiterhin der Wille der Bosse. „Es gibt keinen juristischen Grund, Contador zu bestrafen“, twitterte in der letzten Woche der spanische Ministerpräsidenten José Luis Zapatero.
Prompt änderte der Königlich Spanische Radsportverband RFEC seinen vor zwei Wochen geäußerten „Vorschlag“, Contador wegen Spuren des Kälbermastmittels Clenbuterol wenigstens für ein Jahr zu sperren, in einen Freispruch. Selbst dem notorisch verschleiernden Radsportweltverband UCI war dies zu dreist: „Angesichts der Differenzen zwischen dem ersten Vorschlag der Disziplinarkommission und diesem endgültigen Urteil behält sich die UCI ein detailliertes Studium der Unterlagen vor und wird binnen 30 Tagen eine Entscheidung bekannt geben.“ Das Urteil spricht den Fakten Hohn. Bei vier Dopingkontrollen während der Tour de France wurde Contador Clenbuterol nachgewiesen. Die geringe Menge – zwischen 7 und 50 Pikogramm – besitzt nach Ansicht der meisten Experten keinen leistungssteigernden Effekt. Die Antidopinggesetzgebung der Wada sieht aber die volle Verantwortlichkeit des Athleten für alle Substanzen in seinem Körper vor.
Nur wenn der Sportler nachweisen kann, dass die Substanz ohne eigenes Verschulden in den Organismus gelangt ist, wird von einer Sperre abgesehen. Von dieser Regel profitierte der deutsche Tischtennisspieler Dimitrij Ovtscharov. Dessen Verteidiger Michael Lehner sieht aber „keine Parallelen“ zwischen beiden Fällen. „Wir haben eindeutig nachweisen können, dass das Clenbuterol aus der Nahrungskette kam. Ovtscharov hat Haarproben abgegeben. Bei seinen Mannschaftskameraden, die das Gleiche gegessen haben, wurde ebenfalls Clenbuterol gefunden. China ist für Probleme in der Lebensmittelbranche bekannt. Der Sportler hielt sich dort zwei Wochen auf“, erklärte Lehner der taz.
Contador führt das Clenbuterol auf ein Stück Rindfleisch aus dem spanischen Baskenland zurück. Dort wurden in den letzten zehn Jahren keine Verunreinigungen festgestellt. Weder Contador noch dessen Teamkollegen, die ebenfalls von dem Fleisch gegessen hatten, boten rechtzeitig Haarproben an. Contadors Verteidigung ist so offensichtlich dürftig, dass englische Medien dafür den Begriff „Steak-Gate“ geprägt haben. Für Vertuschungsabsichten à la Watergate spricht auch, dass der spanische Verband dem Verdacht, das Clenbuterol könne durch Zufuhr von angereicherten Blut in Contadors Körper gelangt sein, gar nicht nachging.
Eine Person aus dem Umfeld von Team Astana behauptete gegenüber dem belgischen Magazin Humo, Contador habe „nach der Dauphiné Libéré eine Blutentnahme vorgenommen“. „Das Blut enthielt noch immer etwas Clenbuterol, das aus einer Kur zur Gewichtsreduzierung stammte“, meinte der Zeuge weiter. Nach der Retransfusion könnte dies zur positiven Probe geführt haben. Die Quelle sei zu 100 Prozent glaubwürdig, werde aber aus dem Milieu unter Druck gesetzt, erklärte die Redaktion auf taz-Anfrage.
Für die Transfusionsthese sprechen ebenfalls Spuren des Weichmachers DEHP. Diese Plastikrückstände, die aufgrund ihrer Spezifik von Blutbeuteln stammen könnten, wurden bei Contador durch Analysen des Kölner Dopinglabors festgestellt.
Dass all dies bei der Urteilsfindung des spanischen Radsportverbands keine Rolle spielte, setzt nicht nur die bereits anlässlich des Fuentes-Skandals augenfällige Vertuschungsstrategie höchster politischer Amtsträger fort. Contadors Freispruch eröffnet auch anderen Athleten Tür und Tor, sich einer Verurteilung zu entziehen. Wer die Sache mit Humor betrachtet, wird – wie Cyclingnews-Korrespondent Daniel Friebe – diese Verhaltensänderung erwarten: Kein Radprofi wird mehr leere Trinkflaschen zu den Fans werfen, weil sie als Beweisstücke für vermeintliche Verunreinigungen Gold wert sind. Dank Steak-Gate übertrifft das Satirepotenzial des Profiradsports nun Harald Schmidt, Stefan Raab und „Neues aus der Anstalt“ zusammen. Contador tritt seit Mittwoch übrigens bei der Algarve-Rundfahrt an: mit der Startnummer 1 am Rahmen. Welch eine Freude!