piwik no script img

Archiv-Artikel

„Donezk ist eine Geisterstadt geworden“

INTERVIEW Nikolaj Ischtschenko ist mit Frau und Kindern aus seiner Heimatstadt Donezk zu Verwandten ins russische Nischni Nowgorod geflohen. Er und viele andere fühlen sich von Moskau im Stich gelassen

taz: Herr Ischtschenko, was ist Ihre Nationalität?

Nikolaj Ischtschenko: Am ehesten würde ich mich noch als „Dontschjanin“, als Einwohner von Donezk, bezeichnen. Trotzdem bin ich eher Russe als Ukrainer.

Was tun die Verteidiger der Volksrepublik Donezk?

Zwischen den Stadtvierteln und am Stadtrand wurden Kontrollposten errichtet. Dort wird aufgepasst, dass niemand etwas Verbotenes mit sich führt. Die Posten erfüllen die Funktion der Miliz, mit der sie auch zusammenarbeiten. Dennoch haben viele schlechte Menschen Waffen erhalten. In Donezk gibt es viel Abschaum, der sich unter dem Deckmantel der Volksrepublik verbirgt. Diese Banditen stehlen und begehen Überfälle.

Gibt es Zwangsrekrutierungen für die Kampfeinheiten der Volksrepublik?

Nein. Weder ich noch meine Kollegen, die wie ich Taxifahrer sind, wurden je zu irgendetwas gezwungen. Auch unsere Autos nahm man uns nicht weg. Wenn mal jemand von der Volksrepublik Donezk mitfahren wollte, wurden wir immer bezahlt.

Gegen wen kämpfen die Aufständischen der Volksrepublik?

Gegen die ukrainischen Truppen und Igor Kolomojskij, den Oligarchen aus Dnepropetrowsk, sowie gegen unbekannte Einheiten, von denen wir glauben, dass sie von amerikanischen Geheimdiensten finanziert werden.

Haben Sie daran gedacht aufseiten der Volksrepublik Donezk mitzukämpfen?

Klar, aber ich habe Kinder. Wohin mit ihnen? Bekannte von mir, die arbeitslos sind, helfen der Volksrepublik. Sie kämpfen nicht, aber helfen anderweitig. Geld bekommen sie dafür keins.

Angeblich kämpfen viele Tschetschenen und andere Kaukasier aufseiten der Volksrepublik Donezk …

Davon gibt es nur sehr wenige. Hier kämpfen hauptsächlich hiesige Einwohner, frühere Militärs, aber auch ehemalige Bewohner von Donezk. Sie kommen von der Krim, aus Kiew, sogar aus der Westukraine! Es heißt, es seien viele Kämpfer aus Russland mit neuester Technik gekommen. Das kann kaum stimmen, die Technik auf unserer Seite ist veraltet. Diejenigen, die schreien, dass sich hier russische Truppen befinden, sind Idioten! Russland hat seine Truppen von der Grenze abgezogen!

Wie haben die Einwohner von Donezk auf den Abzug der russischen Truppen reagiert?

Sie waren enttäuscht. Alle haben auf Hilfe von Russland gehofft. Als die Truppen abgezogen wurden, hat man angefangen Präsident Putin zu beschimpfen. Es hielt sich ein Gerücht, dass wir nur wenige Wochen ausharren müssten und uns dann geholfen werde. Aber niemand kam! Was weiter geschehen wird, weiß keiner. Diesen Monat sind alle Geschäfte und Cafés geschlossen. Die Menschen bleiben zu Hause und haben Angst auf die Straße zu gehen. Die Stadt ist eine Geisterstadt geworden.

Wie hat sich die Waffenruhe auf die Situation ausgewirkt?

Die Waffenruhe gab es eigentlich gar nicht. Man hat die Woche genutzt, um Leichen abzutransportieren und auszutauschen. Ich habe das mit eigenen Augen gesehen. Es gab viele Tote.

In was für einer Stimmung sind die Kämpfer?

Sie sind niedergeschlagen. Keiner weiß, wie das Ganze enden wird. INTERVIEW: ANDREJ STANKO

Aus dem Russischen: Ljuba Naminova