: Hilflos gefangen im Netz der Familiengeschichte
DEBÜT Schlüsselroman und Chronik eines Jahrhunderts: Katharina Borns ambitionierter Erstling „Schlechte Gesellschaft“
Wenn die Tochter eines berühmten Schriftstellers ihr erstes Buch schreibt und dieses Buch im Untertitel „Eine Familiengeschichte“ nennt, horcht der literarische Betrieb allein schon deshalb auf, weil einem sofort das Stichwort „Schlüsselroman“ in den Sinn kommt und sich damit stets eine leicht voyeuristische Hoffnung verbindet. Katharina Born, Jahrgang 1973, ist die Tochter des 1979 im Wendland gestorbenen Autors Nicolas Born und ja, ihr Debüt „Schlechte Gesellschaft“ erzählt, unter anderem, von der schwierigen Freundschaft zweier Schriftsteller, Vahlen und Gellmann, von einer ebenso schwierigen Autorenwitwe, Hella von Nesselhahn (eine Ärztin, wie die Mutter der Autorin auch), von einem philologischen Krimi rund um den Nachlass. Von der Erfolgsverfilmung des einzigen Romans Vahlens, vom Rückzug auf das Land, in das fiktive Dorf Sehlscheid im Westerwald.
Es sind, wie sollte es auch anders sein, biografische Versatzstücke, die Katharina Born verarbeitet hat. Der Text scheitert – bei allen Zugeständnissen, die an ein erstes Buch zu machen sind – dann aber hauptsächlich an seiner Überambitioniertheit.
Katharina Born fächert in sechs langen Kapiteln und auf drei stets voranschreitenden Zeitebenen die Geschichte der beiden Familien von Nesselhahn und Vahlen und die Chronik des westerwäldischen Dorfes seit 1865 auf. Ein gewaltiges Unterfangen, das spontan an Edgar Reitz’ „Heimat“-Projekt erinnert. Man hat die schwarz-weißen Bilder vor Augen. Besser gesagt: Das hätte man gerne. Denn der Haupteinwand gegen diesen Roman ist seine Sprache: Es fehlt der epische Atem, um das hochkomplexe Handlungsgerüst, die verworrenen Genealogien – für die, um den Überblick zu behalten, man sich neben der Lektüre auf einem Blatt Papier einen Stammbaum aufzeichnen muss – mit Vitalität zu erfüllen.
In „Schlechte Gesellschaft“ wird vieles abgehandelt, aber wenig entfaltet. Geradezu pedantisch wird die Chronistenpflicht erfüllt. Dieser Eindruck resultiert vor allem aus einer hölzernen, behäbigen Sprache. Und so geschieht es dann, dass Borns Figuren weniger zu Charakteren als zu Platzhaltern für die Zeitläufte und deren geistige Strömungen geraten sind.
Die Motoren, die die Geschichten auf allen Ebenen vorantreiben, sind stets die Frauen. Die Männer werden versehrt oder getötet. Oder sie schaffen sich selbst auf die eine oder andere Weise ab. Allein die Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet diesbezüglich schon eine Vielzahl an Möglichkeiten; hinzu kommt eine erstaunliche Häufung privater Unglücke und Katastrophen.
Die Ausgangslage ist folgende: Im Jahr 2007 trifft im Westerwald-Haus Hella von Nesselhahns der Doktorand Wieland ein, um den Briefwechsel zwischen Peter Vahlen und seinem Freund Gellmann zu sichten. Von der Witwe wird Wieland höchst unfreundlich empfangen, nicht aber von Judith, der Tochter, die, das ist eine von vielen Pikanterien, einmal mit Gellmann verheiratet war. Die Beziehung zwischen Vahlen und Gellmann, die ihre Anfänge in den Protestzeiten der sechziger Jahre genommen hat, ist der Nukleus von „Schlechte Gesellschaft“. Davon ausgehend springt Katharina Born in den Zeitebenen vor und zurück. Die Familiengeschichte erweist sich als ein schwer durchschaubares Netz von Kränkungen, Anziehung und Abstoßung, physischen und psychischen Verletzungen, gar einem möglichen Inzest und historischen Verblendungen.
Sehlscheid wird im Kleinen zum Schauplatz der Geschichte; alles kommt vor: der dörfliche Aberglaube; der verwundete Kriegsheimkehrer, der später zum strammen Nazi wird, jüdische Schicksale, Emigration, die blühende bürgerliche Zeit nach dem Wiederaufbau, der Aufruhr der Nachkriegsgeneration gegen die Eltern.
Die Autorin hat dann noch innerhalb des Textes ein Verwirrspiel rund um einen vermeintlichen Schlüsselroman aufgebaut, den Wieland und Judith in Vahlens Nachlass entdecken. Realität, Romanrealität und die darin wiederum aufgebaute Fiktion befinden sich in einem spannenden Korrespondenzverhältnis. Aber auch das geht letztlich unter. Katharina Born wollte zu viel.
CHRISTOPH SCHRÖDER
■ Katharina Born: „Schlechte Gesellschaft“. Hanser Verlag, München 2011, 270 Seiten, 19,90 Euro