Berliner Platte
: Irgendwo zwischen Wasser und Land liegt Oran Lavies Musik

Oren Lavie: „The Opposite Side of the Sea“ (Tuition/Alive), Record-Release-Konzert: 28. 1., Aufsturz

Diese Reise geht dorthin, wo die Welt unentschieden zwischen den Jahreszeiten hängen bleibt. Die Zeit steht still in dem Moment, da das Gemüt sich aus dem Körper verabschiedet zwischen Wachen und Schlafen. Der Zug steht still an jenem Ort, an dem die Dämmerung niemals zu enden scheint. Da, genau da, schleichen auch die Songs von Oren Lavie herum. Gern lassen sie sich dabei führen von einem traumverlorenen Cello.

So sehr sich die Musik auf „The Opposite Side of the Sea“ eingenistet hat in dieser Zwischenwelt, so sehr scheint ihr Urheber immerzu auf dem Sprung. Geboren und aufgewachsen ist Oren Lavie in Tel Aviv, mit Anfang zwanzig geht er zum Theaterstudium nach London, später nach New York und schließlich kommt er nach Berlin. Kein Mythos zieht in die ehemalige Mauerstadt, sondern nur der Zufall: Ein Freund besaß ein Aufnahmestudio hier. Doch der Ort ist der richtige. Sein erstes Album kann hier entstehen, weil Berlin „nach London und New York so eine langsame, faule Stadt ist“ – endlich Zeit genug, sich um die Songs zu kümmern, die Jahre zuvor entstanden waren.

Nun ist Lavie 30 Jahre alt und betreibt die Melancholie als Spitzensport: In seinen Songs ist es „eine Viertelstunde nach wundervoll“, trägt der Himmel ein anderes Blau als früher, und auf der anderen Seite des Tages sind die Farben stets viel heller. Die Frauen sind Heroinen aus klassischen Schwarzweißfilmen oder ätherische Wesen, die sich mit dem Sonnenaufgang dematerialisieren. Die Männer suchen ihr Glück stets in der Ferne oder ertrinken in den tiefen Ozeanen, die sie sich selbst erträumten.

Lavie mag zu keiner Szene gehören und hat keine Referenzen im Angebot, er mag musikalisch wie aus dem Nichts kommen, genau dort aber hat er offensichtlich die perfekte Symbiose zwischen berückender Poesie und betörender Musik gefunden. Gut, manchem mag das ein bisserl viel vom wohl temperierten Jazzklavier sein, die eh nur selten eingesetzte Perkussion allzu vorsichtig gerührt werden, als wollte Lavie um jeden Preis zur männlichen Norah Jones werden. Und wenn das Streichquartett aus dem Titelsong ganz besonders lustvoll fiedelt, erinnert er sogar an James Blunt. Aber ein gewisser Hang zum edlen Kitsch ist nun mal Teil des Pakets: Wer es romantisch mag, darf sich nicht wundern, wenn manches auch mal zu sentimental gerät. Im Pathos versinkt Lavie trotzdem nicht. Vor allem deshalb, weil er sich vornehmlich auf den spartanischen Dreiklang aus Stimme, Piano und akustischer Gitarre stützt. Selten zuvor wohl wurde die Lächerlichkeit so souverän umschifft, selbst ein düsteres Endzeitszenario wie „Blue Smile“, in dem der Himmel zu verschwinden droht, klingt bei Oren Lavie wie ein luftiges Heilsversprechen.

Auf dem Cover von „The Opposite Side of the Sea“ steht Lavie bis zur Hüfte im Wasser, einen Reisekoffer in der einen Hand, einen Gitarrenkoffer in der anderen. Der Tag wirkt eher trübe, Oren Lavie ist auf dem Weg an Land. Aber noch steht er irgendwo zwischen Meer und Land, irgendwo dazwischen eben.

THOMAS WINKLER