Die Mär vom klimaneutralen Flug

Fliegen und gutes Gewissen schließen sich gegenseitig aus. Auch wenn „atmosfair“ und andere Ausgleichsagenturen ungeahnte Erfolge verzeichnen. Ernsthafte Konzepte zur CO2-Reduzierung sind nicht in Sicht

von GERHARD FITZTHUM

Der Klimawandel ist vorprogrammiert – das beginnt sogar der Insel der Seligen zu dämmern, wo ein Viertel der weltweiten Treibhausgase emittiert werden, den USA. Dass man den Klimawandel noch stoppen könne, glaubt niemand mehr. „Schadensbegrenzung“ lautet inzwischen das Stichwort. Diskutiert werden heute Szenarien, die von Reduktionszielen ausgehen, bei denen sich die Erdatmosphäre „nur“ um 2 bis 3 Grad Celsius erwärmt.

Wie unrealistisch selbst dieses bescheidene Ziel angesichts der allgemeinen politischen Trägheit ist, zeigen die Ergebnisse des britischen Tyndall-Instituts. Das im Auftrag der UN forschende Wissenschaftlergremium hat hochgerechnet, dass im Jahr 2040 allein schon die zivile Luftfahrt jene Treibhauswirkung entfalten wird, die in der EU insgesamt noch erlaubt sein dürfte, wenn man die globale Erwärmung im genannten Rahmen halten will. Die Flugbewegungen nehmen seit 1990 nämlich um rund 5 Prozent pro Jahr zu. Die Kerosineinsparungen dank verbesserter Triebwerke, auf die die Airlines gerne verweisen, können da nicht mithalten. Hatte das höchste wissenschaftliche UN-Gremium Ende der Neunzigerjahre noch geschätzt, dass der Flugverkehr für gerade mal 3,5 Prozent der Klimagase verantwortlich ist, so ist man inzwischen realistisch geworden und rechnet derzeit mit bis zu 9 Prozent. Übersehen wurde, dass das in der Höhe emittierte CO2 zwei- bis viermal so klimaschädlich ist wie das am Boden freigesetzte Klimagas.

Die gravierendsten Effekte stammen dabei von den hohen Cirruswolken, zu denen die Kondensstreifen der Düsenjets gelegentlich auslaufen. Wenn diese Eiswolken längere Zeit am Himmel stehen bleiben, erhöht sich die Temperatur am Boden darunter um mehrere Grad. Auch wenn die komplexen Zusammenhänge noch nicht abschließend erforscht sind – Fliegen und gutes Gewissen schließen sich gegenseitig aus.

Klar, dass dies CO2-Ausgleich-Agenturen wie „atmosfair“ eine ungeahnte Karriere verschafft. Weltweit liefern bereits mehr als vierzig offset-agencies die entsprechende Gewissensberuhigung. „Doch nicht alle sind seriös“, warnt Stefan Gössling. Gemeinsam mit Kollegen aus anderen EU-Staaten hat der Professor der schwedischen Universität Lund Glaubwürdigkeit und Effizienz von 17 kommerziellen und 25 gemeinnützigen Unternehmen untersucht und vielerorts erhebliche Mängel bezüglich der Berechnungsgrundlagen und der Kompensationsmaßnahmen festgestellt. Meist werde die Klimabelastung der zu kompensierenden Aktivität unterschätzt und die versprochene CO2-Reduktion nicht nachgewiesen. Kaum eines der neuen Klimaschutzprojekte erfülle die strengen Standards der internationalen Umweltorganisationen, nach denen die vorbildliche deutsche atmosfair arbeite. Weil deren Emissionsrechner auch die indirekten Klimaeffekte mitberechnet, sind die Spendenforderungen hier höher und realistischer als bei anderen Anbietern.

Ein anderes Kriterium der Glaubwürdigkeit ist, ob die Darstellung des Kompensationsangebots auf die Gewissensberuhigung des Kunden zielt oder auf eine langfristige Änderung des Mobilitätsverhaltens. Auch diesen Vorwurf kann man atmosfair nicht machen. Auf Website und Flyer empfiehlt es sich selbst nur als „zweitbeste“ Lösung. Am besten für das Klima sei es nach wie vor, gar nicht zu fliegen. Die Beschwörungsformel vom „klimaneutralen Fliegen“ nimmt Brockhagen erst gar nicht in den Mund.

Trotz dieser Antiwerbung ist der Erfolg von atmosfair beachtlich. Zu den Kunden gehören inzwischen nicht nur renommierte Reisebüroketten, sondern auch Großunternehmen aus der Versicherungsbranche und anderen Sparten. Bei diesen ist der klimapolitische Nutzen der gemeinnützigen GmbH am eindeutigsten: Die ökonomischen und ökologischen Kosten-Nutzen-Analysen, die der Emissionsrechner erlaubt, erleichtern den Firmen die Entscheidung für alternative Kommunikationsmodelle wie Videokonferenzen. Bei den zahlenmäßig weit überlegenen Privatflügen ist hingegen kein realer Rückgang und damit auch kein Rückgang der Emissionen zu erwarten. Wirklich entlasten würde der Reisende das Klima banalerweise nur, wenn er Klimaschutzprojekte finanziell unterstützt – und trotzdem nicht fliegt.

Schlimmer noch, wenn das Kompensationsgeschäft in die Hände kommerzieller Anbieter geriete. Schließlich könnten auch die Airlines bald begreifen, dass ihnen nichts so sehr eine von kritischen Fragen unbehelligte Zukunft sichert, wie das Kassieren einer kleinen ökologischen „Mehrflugsteuer“. Diese CO2-Abgabe würde dann irgendwann so selbstverständlich zu einem Ferienflug gehören wie die Kurtaxe zum Aufenthalt in Ferienorten. Umweltschädigendes Verhalten würde auf diese Weise normalisiert und legitimiert – und das zugrundeliegende Problem unsichtbar gemacht.

Hierin liegt die Grundparadoxie des Kompensationsmodells: So wünschenswert der Emissionsausgleich jedes konkreten Flugs ist, so absurd wäre er als globale Praxis. Setzt sich das Modell in großem Maßstab durch, so wird es zu einem Wildwuchs von Neutralisierungsangeboten kommen, deren Seriosität niemand mehr ernsthaft überprüfen kann. Derart gerechtfertigt, würde der Flugverkehr in einem Maße weiterwachsen, dass man irgendwann halb Afrika mit Sonnenkollektoren überziehen müsste, damit die 5 Prozent der Weltbevölkerung, die bis heute jemals ein Flugzeug benutzt haben, sorglos an ihren Mobilitätsprivilegien festhalten und weiterfliegen können.

Ernsthafte Dezimierungskonzepte sind dagegen nicht in Sicht, auch wenn EU-Umweltkommissar Stavros Dimas den Flugverkehr in den bereits bestehenden Emissionshandel einbeziehen will. Dass sein Gesetzgebungsvorschlag die Hürde des EU-Parlaments nimmt, mag glauben, wer will. Schon zu Kerosin- und Mehrwertsteuer konnte man sich ja nicht durchringen, im vermeintlichen Ökomusterland Deutschland ist der Klimakiller Nr. 1 sogar von der Ökosteuer befreit. Und die Entwürfe für neuartige Triebwerke, die ohne fossile Brennstoffe auskommen, liegen noch tief in den Schubladen.

Trost bietet einzig der sich zaghaft abzeichnende Wandel des Reisebewusstseins: Zumindest in der Bundesrepublik ist der Wander- und Radelurlaub im eigenen Land in den letzten Jahren zu einem echten Renner geworden. Laut Umfragen handelt es sich hier keineswegs nur um Verlegenheitslösungen, die man wählt, um Geld zu sparen. Es geht auch nicht primär um Sport und Fitness. Das Schlüsselmotiv ist vielmehr die Lust am genussvollen Unterwegssein, ohne vorher und nachher entwürdigende Leibesvisitationen über sich ergehen lassen zu müssen. Und die chronische Überlastung der Lufträume tut das ihre, um den Spaß am Flug zu bremsen.

Sollte sich der zaghafte Sinneswandel zum Trend verstärken, so wäre dies ein Markstein in der Geschichte der neueren Reisekultur – der Verzicht auf das klimaschädliche Fliegen im Namen des Genusses statt im Namen des schlechten Gewissens.

GERHARD FITZTHUM ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Natururlaub