Oh, die Straße kenn ich doch! Da wohne ich!

GEWALT Die Ausstellung „Berliner Tatorte“ dokumentiert in der Topographie des Terrors Orte von rassistischen Übergriffen. Sie werden in einer berlinweiten Chronik erfasst, Tendenz steigend

Die Bilder sind zumeist menschenleer, alle in Schwarz-Weiß gehalten, sonst nur ein kurzer Text, der Auskunft darüber gibt, wann und wo wem was geschehen ist

VON CHRISTINA STEENKEN

Hoyerswerda, Hellersdorf, Lichtenhagen. Es sind oft Orte, die man mit bestimmten Gewalttaten verbindet und die zu „Kürzeln“ und Synonymen für Verbrechen, Anfeindungen oder Angriffe geworden sind. Alle diese Beispiele stehen für Orte des Schmerzes und der Gewalt.

In der Topographie des Terrors beschäftigt sich derzeit die Ausstellung „Berliner Tatorte – Dokumente rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ genau mit diesem Thema. Zusammen mit der Organisation ReachOut – Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, die Opfer und deren Angehörige nach Angriffen betreut, sich aber auch präventiv engagiert, zeigt der Fotograf Jörg Möller insgesamt 240 Aufnahmen, die Berliner Tatorte zum Motiv haben. Orte, an denen Menschen Opfer rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt wurden.

Erschreckende Normalität

Allein seit Gründung von ReachOut im Jahre 2002 hat die Organisation über 1.400 gewalttätige Angriffe dokumentiert und in einer berlinweiten Chronik erfasst, die auch auf ihrer Internetseite zu finden ist. Im Jahr 2013 waren es 185 Übergriffe, „so viele wie noch nie seit unserem Bestehen“, berichtet Sabine Seyb von ReachOut. Ausgewählte Beispiele dokumentiert nun die Ausstellung, die die erschreckende Normalität der Angriffe aufzeigt und an Ereignisse erinnern will, die ihre Opfer nie wieder vergessen werden.

Die Fotosammlung, die in ihrem Ursprung von der Arbeit des US-amerikanischen Fotografen Joel Sternfeld inspiriert wurde, wurde bereits 2003 zum ersten Mal gezeigt. Seitdem kamen jährlich circa 30 Aufnahmen hinzu. Das Konzept der Ausstellung ist einfach, aber intensiv: Man sieht die Orte der Übergriffe – ein Imbiss, eine S-Bahn-Station oder eine Straße – alles gewöhnliche Orte. Die Bilder sind zumeist menschenleer, alle in Schwarz-Weiß gehalten, sonst nur ein kurzer Text, der Auskunft darüber gibt, wann und wo wem was geschehen ist. Die Informationen darüber bekommt ReachOut von der Polizei, von Organisationen, aus Zeitungen, von Einzelpersonen und von den Opfern selbst, mit denen sie durch ihre Beratungsstelle in Kontakt kommen.

So ist zum Beispiel auch der Ort der Ausstellung, die Topographie des Terrors, ein Berliner Tatort und selbst Teil der Sammlung. Am 4. Mai 2005 wurde hier nämlich ein 22-jähriger kanadischer Tourist nach dem Besuch der Ausstellung von einem 35-jährigen Mann aus Berlin-Tiergarten beleidigt und angespuckt. Der 22-Jährige verließ die Ausstellung gemeinsam mit drei Begleitern. Alle vier waren anhand ihrer Kleidung als Juden erkennbar, so die Pressemitteilung der Polizei, die neben dem Foto des Tatorts abgedruckt ist.

Als Fotograf nimmt sich Jörg Möller bei den Fotos völlig zurück, er will in seinen Bildern lediglich den räumlichen Rahmen geben, in denen die Angriffe stattgefunden haben. Demzufolge ist es eine nüchterne Dokumentation der Orte, die ohne grelle Farben oder von Blut verschmierte Gesichter auskommt, aber dadurch den Blick auf den Kern des Problems lenkt und die Wahrheit offenbart: dass rassistische Gewalt zum Alltag in Deutschland gehört und in Berlin stark verbreitet ist.

Die Konfrontation mit den Bildern ist wirkungsvoll; so mancher Betrachter findet auch seinen Kiez unter all den Fotos: „Oh, da wohne ich! Die Straße kenne ich doch!“

Schnell wird klar, dass vertraute Orte für den einen gleichzeitig Orte traumatischer Erlebnisse für jemand anderen sein können. Das setzt den Denkprozess des Betrachters in Gang: Wie würde ich reagieren, wenn ich beispielsweise Zeuge eines rassistischen Übergriffes in meiner Straße werde? Die Sensibilisierung dafür, Opfern Hilfe zu leisten oder zu rufen und damit zu demonstrieren „Ihr seid nicht allein“, ist ein weiteres Anliegen der Ausstellung.

Auffallend und interessant ist in diesem Kontext auch, dass jeder Berliner Bezirk in der Dokumentation Erwähnung findet. Egal ob Kreuzberg, Marzahn oder Charlottenburg, es gibt da keine Ausnahme. Das ist auch die erschreckende Erkenntnis, die man während des Betrachtens der Bilder bekommt: dass es jederzeit und an jedem Ort wirklich jedem passieren kann, Opfer rassistischer Gewalt zu werden.

■ „Berliner Tatorte. Dokumente rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“. Bis 24. August, täglich. 10 – 20 Uhr, Topographie des Terrors, Eintritt frei