: „Die Opfer haben alle ein Gesicht“
NAHOST Israels Einmarsch in den Gazastreifen wird noch mehr Menschenleben kosten, fürchtet die palästinensische Botschafterin in Deutschland, Khouloud Daibes. Kernproblem bleibe die Besetzung
■ 48, leitet seit August 2012 die Botschaft Palästinas in Berlin. Von 2007 bis 2012 war die Architektin und Denkmalpflegerin Ministerin für Tourismus und Altertümer.
INTERVIEW DANIEL BAX
taz: Frau Daibes, in der Nacht zu Freitag hat Israel mit seinem angedrohten Einmarsch in den Gazastreifen begonnen. Was befürchten Sie?
Khouloud Daibes: Dass es noch mehr Opfer geben wird. Schon jetzt sind über 240 Palästinenser getötet worden, 700 Häuser wurden bombardiert, auf der Flucht sind mehr als 200.000 Menschen, die im abgeriegelten Gazastreifen nicht wissen, wohin.
In Kairo wurde diese Woche um einen Waffenstillstand gerungen. Warum hat die Hamas ihn nicht angenommen? Israel war dazu angeblich bereit.
Unser Präsident Abbas befindet sich zurzeit in Kairo und bemüht sich um ein Abkommen, das von allen Beteiligten akzeptiert wird. Die PLO hat die ägyptische Initiative sofort angenommen, um unsere Bevölkerung vor den israelischen Angriffen zu schützen. Es braucht jedoch dringend einen umfassenden Plan, um die Menschen in Gaza aus ihrer verzweifelten Lage zu befreien.
Welche Bedingungen stellt die Hamas?
Die Lage im Gazastreifen ist schon seit sieben Jahren dramatisch, sie hat sich jetzt weiter verschärft. Schuld daran sind die Abriegelung und die Besetzung durch Israel. Das muss sich ändern.
Israels Armee hat sich doch vor neun Jahren aus dem Gazastreifen zurückgezogen.
Es handelt sich um sogenannte Abkopplung, aber Israel hält weiter die militärische Hoheit über das Gebiet. Es ist nach internationalem Recht deshalb weiterhin für die Sicherheit und die humanitäre Versorgung der Menschen dort verantwortlich. Das Kernproblem bleibt darum die Besetzung, die Abriegelung. Es ist unmöglich, eingesperrte und hungrige Menschen ohne Strom und Trinkwasser zum Frieden zu bomben. Diese Menschen brauchen eine Zukunft.
Israel beschuldigt die Hamas, hinter der Entführung und Ermordung von drei Jugendlichen aus einer Siedlung bei Hebron zu stehen. Was wissen Sie über die Hintergründe?
Wer die Tat verübt hat, ist bis heute ungeklärt. Aber Israel benutzt diese Tat als Vorwand für seine aggressive Politik. 550 Menschen wurden seitdem im Westjordanland verhaftet, viele Häuser durchsucht und zerstört, ganz Hebron stand über Wochen unter Hausarrest.
Die Hamas hat seit dem letzten Krieg vor zwei Jahren offenbar ihr Raketenarsenal aufgerüstet. Woher bezieht sie ihre Raketen, wenn der Gazastreifen doch seit Jahren abgeriegelt ist?
Das weiß ich nicht, da müssen Sie die Hamas fragen. Ich vertrete hier die PLO.
Israels Armee sagt, sie würde die Bewohner der Häuser, die sie angreift, vorher warnen. Wie sehen Sie das?
Diese Warnungen sind eine zynische Farce. Zwischen Warnung und Bombardierung liegen 58 Sekunden. Welcher Mensch ist in der Lage, in dieser Zeit ein Gebäude zu verlassen? Denken Sie an ältere Menschen, Frauen, Kinder, Babys. Das jüngste Opfer war fünf Monate alt, das älteste über 80 Jahre.
Die israelische Armee behauptet, sie würde keine Zivilisten angreifen, das sei ein bedauerliches Versehen.
Die Zahlen sprechen doch für sich. 230 Palästinenser, die Mehrheit Zivilisten, sind umgekommen. Die haben alle Namen, Gesichter und eine Geschichte. Israel verstößt mit diesen Angriffen gegen alle internationalen Abkommen. Das Ergebnis sind eine hohe Zahl von Todesopfern, die Zerstörung lebensnotwendiger Infrastruktur und eine schwer traumatisierte Bevölkerung.
Noch im April hatte Abbas angedeutet, die Hamas sei zu Kompromissen bereit, sie werde Israel anerkennen und auf Gewalt verzichten. Ist das realistisch?
Dass die letzten Friedensverhandlungen unter Leitung von US-Außenminister Kerry gescheitert sind, dafür trägt Israel die Verantwortung. Für die Verhandlungen im Versöhnungsprozess ist die PLO verantwortlich. Unser Ziel ist es, die Hamas ins politische System zu integrieren und mit Israel einen dauerhaften Frieden zu schließen.
Erst vor sechs Wochen haben die Fatah und die Hamas eine gemeinsame Regierung gebildet und Neuwahlen angekündigt. Was bleibt davon?
Das ist eine überparteiliche Konsensregierung, die von allen Staaten der Welt mit Ausnahme von Israel begrüßt worden ist. Der innere Aussöhnungsprozess ist für uns von existenzieller Bedeutung und soll fortgesetzt werden. Israel versucht, diesen Prozess zu torpedieren, um von der politischen Lösung abzulenken.
Anders als die Hamas setzt die Fatah auf friedlichen Widerstand, Verhandlungen und internationale Vermittlung. Hat diese Strategie Erfolg gehabt?
Israel hat das bisher nicht honoriert und setzt stattdessen seine Politik des Landraubs fort. Damit unsere Strategie zum Erfolg führt, muss die Weltgemeinschaft Israel zur Einhaltung internationaler Rechtsnormen zwingen. Und die PLO wird weitere Schritte zur Umsetzung unserer Staatlichkeit auf internationaler Ebene vornehmen.
Die Raketen aus dem Gazastreifen kann man auch so interpretieren, dass ein wichtiger Flügel der Hamas keinen Friedensvertrag will. Richtig?
Wenn ein vernünftiger Kompromiss ausgearbeitet wird, dann müssen alle Flügel der Parteien dem auch Folge leisten.
Der deutsche Außenminister Steinmeier ist derzeit in der Region. Was erwarten Sie von Deutschland?
Deutschland spielt eine große Rolle – in der EU wie in der Weltpolitik. Es soll sich für die Implementierung der Instrumentarien des Völkerrechts und die Bewahrung der unteilbaren Menschenrechte einsetzen.
Welches sind die größten Hürden, die Ihrer Meinung nach einer Zweistaatenlösung im Wege stehen?
Unsere Kernforderungen sind bekannt: klare Grenzen, denn Israel hat seine Grenzen bislang nicht definiert, Beendigung des Siedlungsbaus auf besetztem Gebiet, eine Lösung für Jerusalem, die Flüchtlinge und die Wasserfrage. In diesen Punkten sind wir bisher keinen Zentimeter vorangekommen.
Weil Israel einen anderen Friedensplan hat?
Nein, weil Israel den Status quo aufrechterhalten und die Besetzung nicht beenden will. Mit seiner Fortsetzung des Siedlungsbaus macht es jede Möglichkeit einer Zweistaatenlösung auch praktisch unmöglich.