: Bevor der siebte Tag anbricht
AUS BISCHKEKMARCUS BENSMANN
Sie stehen sich gegenüber: die Anhänger der kirgisischen Opposition und die von Präsident Kurmanbek Bakijew. Die Stimmung auf dem Platz der Freiheit schwankt zwischen Happening und Bürgerkrieg. Schon den sechsten Tag fordern hier in Bischkek, der Hauptstadt Kirgisiens, mehr als 7.000 Demonstranten den Rücktritt von Bakijew und seinem Premierminister Felix Kulow. Dem Präsidenten des zentralasiatischen Staates werden Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Seit nun auch noch in der Nacht zu Dienstag 34 der 70 Parlamentsabgeordneten eine Gegenverfassung verabschiedet haben, wächst der politische Druck – auch hier auf der Straße.
Am frühen Morgen haben sich überraschend 700 Anhänger des Präsidenten versammelt. Geschützt von einem Polizeikordon, skandieren sie vor dem Parlamentsgebäude, dem „Weißen Haus“, Parolen für Bakijew und Kulow und gegen die Opposition. Später, am Nachmittag, kommt es dann zu einer handfesten Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern – Oppositionsanhänger sind ebenfalls vor das Parlament gezogen und liefern sich Wortgefechte mit ihren Gegnern. Flaschen fliegen, es gibt Gerangel, dann explodiert eine Rauchgaspatrone. Vier Oppositionsanhänger werden mit Verletzungen abtransportiert, laut offiziellen Angaben sollen 17 Polizisten leicht verletzt sein.
Seit sich die Anhänger der Opposition wieder zurückgezogen haben, versuchen ihre Anführer die Lage zu deeskalieren. „Wir haben fünf Tage friedlich demonstriert, und wir lassen uns jetzt nicht zur Gewalt hinreißen“, ruft Edil Basailow, einer der Organisatoren der Bewegung für Reformen, in die einsetzende Dämmerung. Zwischen den beiden Lagern stehen Hundertschaften kirgisischer Sicherheitskräfte, ausgerüstet mit Helmen und Schilden.
In der Nacht zum Dienstag hatten sich 34 Abgeordnete, die der Reformbewegung angehören, kurzerhand zur Verfassunggebenden Versammlung erklärt und das Heft des Handels in die Hand genommen. Sie formulierten eine neue Verfassung und riefen Kirgisien zu einer parlamentarischen Demokratie aus. In dem stalinistischen Prunkbau aus grauem Sandstein im Zentrum Bischkeks wehte bis in die gestrigen Morgenstunden ein revolutionärer Geist.
„Bakijew könnte seine Amtszeit zu Ende bringen“, sagte trotzig der Abgeordnete Kabai Karabekow, „vorausgesetzt, er akzeptiert die Verfassung.“ Feierlich unterzeichneten am frühen Morgen die aufmüpfigen Abgeordneten die Verfassung in russischer und kirgisischer Sprache und beschworen nacheinander voller Pathos die nunmehr angebrochene neue Zeit – das Fernsehen übertrug live.
Von den 75 Abgeordneten des Parlaments waren in der hitzigen nächtlichen Debatte jedoch nur 45 anwesend. Nach kirgisischem Recht war man also nicht beschlussfähig – die Geschäftsordnung fordert die Anwesenheit von mindestens 50 Volksvertretern. Bis Mitternacht hatten zwar noch weitere fünf Abgeordnete – also die Mehrheit der kirgisischen Abgeordneten – die Verfassung der Opposition unterschrieben, gleichwohl hält dieses Prozedere nicht der kirgisischen Gesetzgebung stand.
Das wird auch von den Volksvertretern der Opposition nicht bestritten. „Außergewöhnliche Zeiten fordern außergewöhnliche Schritte“, sagt etwa der ehemalige Parlamentssprecher Omurbek Tekebajew. Er musste Anfang des Jahres von seinem Amt zurücktreten, weil er den Präsidenten als Hund bezeichnet hatte, der sich besser aufhängen sollte. Das Parlament ist unüberbrückbar gespalten, eine knappe Minderheit, die nach wie vor zum Präsidenten hält, war zu der Sitzung nicht erschienen.
Deren Anhänger haben sich ebenfalls auf dem Platz der Freiheit versammelt. Für November ist es in der Hauptstadt ungewöhnlich warm. „Das ist nichts anderes als ein Parlamentsputsch“, ruft der Einpeitscher der Bakijew-Anhänger, Toptschynbek Torgunaliew, ins Megafon. Torgunaliew, gekleidet in Anzug und kirgisische Filzmütze, gehörte vor anderthalb Jahren zu den Aufständischen gegen den damaligen Präsidenten Askar Akajew. Im März 2005 musste der sein Amt niederlegen. „Jetzt möchten die Akajew-hörigen Abgeordneten das Rad zurückdrehen“, wettert Torgunaliew weiter.
Während er die Solidarität mit dem Präsidenten beschwört und ankündigt, bald würden Zehntausende den Nochpräsidenten unterstützen, verlässt eine Gruppe von Oppositionsabgeordneten das Parlamentsgebäude. Sofort stürzt sich ein Dutzend Bakijew-Anhänger auf die „Verräter“ und bewirft sie mit Flaschen. Es kommt zur Rangelei und nur mit knapper Not können die Männer flüchten. Unter ihnen ist auch Baibolow, ein grauhaariger Mann im edlen Zwirn. Er ist dafür bekannt, unter Akajew ein reicher Mann geworden zu sein.
„Das sind die Oligarchen, die sich unter Akajew bereichert haben“, ruft Torgunaliew den Flüchtenden nach. Da mag er recht haben – aber unter den oppositionellen Abgeordneten finden sich auch viele ehemalige Anhänger Bakijews, die in jenem revolutionären Frühling gemeinsam mit ihm Akajew gestürzt haben und sich nun um die Früchte der Revolution gebracht fühlen.
Am Dienstagmorgen schließlich lädt der Präsident zur Pressekonferenz in seinen Amtssitz. Draußen auf dem Platz stehen seine Gegner. Bakijew erklärt die Verfassung der oppositionellen Abgeordneten für illegal und wirft ihnen vor, die Lage im Land zu destabilisieren und die Legislative gespalten zu haben. „Ich werde das Parlament noch nicht auflösen – obwohl ich nach der Verfassung das Recht dazu hätte“, droht Bakijew. Dann sagt er, dass nach wie vor jeder das Recht habe, an Kundgebungen teilzunehmen – „solange die öffentliche Ordnung nicht gefährdet ist“. Man könne mit ihm über jede Form der Verfassung reden – aber auf zivilisierte Art und Weise. „Die Tür für Verhandlungen ist offen“, sagt Bakijew. Sein Premierminister Kulow nickt. Das überrascht, denn bisher hat Kulow stets mit den oppositionellen Abgeordneten sympathisiert. Bakijew erklärt weiter seine Genugtuung über die Pro-Bakijew-Kundgebungen draußen auf dem Platz der Freiheit.
Dort jedoch ist nach wie vor die Opposition in der Überzahl. Die Demonstranten verlangen unbeirrt die Annahme der neuen Verfassung. Sie kündigen an, so lange auszuharren, bis der Präsident nachgebe. Ein glaubwürdiges Versprechen – viele kampieren hier in Zelten.
In die Auseinandersetzung mischen sich zunehmend Stimmen, die einzelne regionale Interessen zu vertreten versuchen. In dem zentralasiatischen Land schwelt schon sehr lange ein traditioneller Konflikt zwischen Nord- und Südkirgisien. Gerüchte gehen um, in Dschalalabad und Osch, den Metropolen des kirgisischen Südens, würden sich Demonstrationen zur Unterstützung des Präsidenten formieren. In den nächsten Tagen könnten sie zum Marsch auf die Hauptstadt aufbrechen.
Im Norden des Landes hingegen sammelt sich die Opposition. Bisher ist die Zahl der Anhänger auf beiden Seiten noch überschaubar, aber in dem von Krisen geschüttelten Staat kann schon eine sehr kleine Gruppe Entschlossener viel auslösen.
Die oppositionellen Anhänger in Bischkek wollen sich aber den friedlichen Protest nicht kaputtreden lassen. Sie rufen ihre Anhänger zur Besonnenheit auf. „Wir sollten Bakijew nicht den Vorwand dafür liefern, den Notstand auszurufen“, sagt Baisalow am Abend vor den Demonstranten. Die kommende Nacht wird zeigen, ob Verhandlungen zwischen den beiden Lagern überhaupt noch möglich sind.
Auf dem Platz zwischen den zwei Kundgebungen steht nach wie vor das große Lenindenkmal. Inmitten der hitzigen Auseinandersetzung zwischen Bakijew-Anhängern und -Gegnern vollzieht sich ein Stück absonderlicher Sowjetnostalgie. Am 4. November, dem 89. Jahrestag der Oktoberrevolution, haben, unbeeindruckt von der politischen Aufregung, eine Hand voll aufrechter Kommunisten Blumen vor dem Denkmalssockel niedergelegt. Zwei betagte Damen der Kirgisischen Kommunistischen Partei drehen sich im Walzerschritt vor dem Denkmal, während aus einem alten Aufnahmegerät Revolutionslieder der großen sozialistischen Oktoberrevolution tönen. „Das wäre alles nicht passiert, wenn es die Sowjetunion noch gäbe“, seufzt eine der Frauen, während sie sich im Kreis dreht.