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Als sich Europa erstmals politisch vereint zeigte – gegen den Antisemitismus. Das Jüdische Museum Frankfurt zeigt eine Ausstellung zur Dreyfus-Affäre

Im August 1899 erhielt Madame Dreyfus ein Blatt mit 200 Unterschriften aus dem niederländischen Rozenburg, das mit einer Windmühle verziert war. Aus Leeuwarde traf ein Schreiben mit einer schönen Wappeninitiale ein, „de tous habitants de la Province de Frise“. Und aus London sandte der Daily Chronicle sogar 125.000 ermutigende Unterschriften seiner Leser mit einem Jugendstil-Engel auf Goldgrund als Frontispiz und dem Wunsch nach Gerechtigkeit auf dem Ledereinband.

Die Solidaritätsadressen galten Alfred Dreyfus, einem jüdischen Offizier der französischen Armee. Sie sind in der Ausstellung „Alfred Dreyfus – Kampf um Gerechtigkeit“ zu sehen, die das Jüdische Museum Frankfurt vom Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaisme übernommen hat. Dreyfus war bereits 1894 als Spion verurteilt, degradiert und auf die tropische Teufelsinsel verbannt worden. Nun, nach Jahren der Einzelhaft in einer Hütte, stand er aufgrund der erdrückenden Beweise seiner Unschuld 1899 erneut vor dem Kriegsgericht. Das Revisionsverfahren hatte man in die Provinz nach Rennes verlegt, um die Kundgebungen der „Dreyfusards“ und „Anti-Dreyfusards“ in Grenzen zu halten.

Wie die ausgestellten Beispiele andeuten, bewegte die „Affäre Dreyfus“ mittlerweile europaweit selbst Menschen, die sich wenig für Politik interessierten. Doch bei weitem nicht alle glaubten an einen Justizirrtum oder sahen die Prinzipien der Französischen Revolution gefährdet. Vor allem die französische Gesellschaft spaltete sich in zwei Lager, der Riss konnte durch die Familie gehen. „Mein Vater (…) aber war von Dreyfus’ Schuld überzeugt. Verstimmt hatte er Kollegen abgewiesen, die ihn gebeten hatten, sich in eine Liste zugunsten einer Revision einzutragen. Er sprach acht Tage lang nicht mit mir, als er erfahren hatte, daß ich anders dachte“, lässt Marcel Proust den Ich-Erzähler seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ sagen. Die Gespräche in den Salons des Romans kreisen immer wieder um Dreyfus, und wer sich als „Dreyfusard“ outet, ist nicht gesellschaftsfähig.

Dreyfus war glühender Patriot, aber als Jude, der überdies 1859 im Elsass geboren war, gab er den idealen Täter ab. Als 1894 eine Spionage für das Deutsche Reich aufflog, verdächtigte man ihn sofort, interpretierte Unterlagen aufgrund der Vorurteile falsch und fälschte später auch welche. Um die „Ehre“ der Armee nicht durch einen eingestandenen Irrtum zu „beflecken“ und der von Massenblättern aufgeheizten antisemitischen Stimmung zu entsprechen, verurteilte man Dreyfus in Rennes erneut, begnadigte ihn aber sofort, weil die Pariser Weltausstellung von 1900 anstand.

Über die Zirkel in Kirche, Offizierskorps und Aristokratie hinaus war der Antisemitismus vor allem durch den 1886 erschienenen Bestseller „La France juive“ von Edouard Drumont virulent geworden, seit 1892 hielt dessen Zeitung La Libre Parole dieses Gift in einer durch die Niederlage 1870/71 und den Verlust Elsass-Lothringens verunsicherten Gesellschaft am Kochen. Bereits während der Degradierung des verurteilten Dreyfus am 5. Januar 1895 schrien Zuschauer „Judas“ und „Tod dem Verräter“. Als Korrespondent wohnte Theodor Herzl dieser Herabwürdigung bei. Das Erlebnis bestärkte ihn in dem zionistischen Programm, das er kurz darauf als „Der Judenstaat“ veröffentlichte. Das Aufbranden des Antisemitismus gipfelte 1898/99 in den Krawallen in Algier und 55 französischen Städten.

Dass in der „Affäre Dreyfus“ schließlich doch der republikanische Rechtsstaat siegte, ist der Zivilcourage von Einzelpersonen zu verdanken. Jüdische und sozialistische Organisationen hielten sich anfangs zurück. Erstere, weil sie den Antisemitismus nicht herausfordern wollten, Letztere, weil sie, wie Wilhelm Liebknecht, die Affäre als Streit innerhalb der Bourgeoisie interpretierten, der das Proletariat nichts anginge. Nur Bruder Mathieu und Ehefrau Lucie, beide selbst geächtet, sammelten neue Unschuldsbeweise, daher zeigt die Ausstellung viele Familienfotos und -briefe. Die meisten Schriftsteller und Künstler engagierten sich erst später.

George Clemenceau fasste die Motive ihres Engagements so zusammen: „Sobald das Recht eines einzelnen verletzt wird, ist das Recht aller, das Recht der Nation selbst in Gefahr.“ Er hatte die Zeitung L’Aurore gegründet, auf deren Titelseite vom 13. Januar 1898 der berühmte Appell „J’accuse …!“ von Emile Zola als offener Brief an den Präsidenten Félix Faure erschien. Er bedeckt kleingedruckt die ganze Seite, doch die auf 300.000 erhöhte Auflage war innerhalb weniger Stunden verkauft. Zola entlarvte minutiös alle Lügen und Machenschaften, „es ist ein Verbrechen, die Leidenschaften der Intoleranz anzufachen, indem man hinter dem ekelhaften Antisemitismus Deckung nimmt, an dem das liberale Frankreich der Menschenrechte stirbt, wenn es nicht von ihm geheilt wird“.

Zolas mutiges und uneigennütziges Eintreten für den Verfolgten wurde zur Geburtsstunde des engagierten Intellektuellen. Wie erwartet, verurteilte man auch ihn, auf seinen Anwalt wurde geschossen. Zola zog die Flucht nach London dem Gefängnis vor und blieb dabei: „Die Wahrheit marschiert und nichts wird sie aufhalten.“ Sie brauchte zwölf Jahre, denn erst 1906 wurde Alfred Dreyfus rehabilitiert. Wesentlich trug dazu bei, dass Jean Jaurès 1903 eine mehrstündige flammende Rede vor dem Parlament hielt, das ausgestellte Ölbild gibt die erregte Stimmung gut wieder.

Gegen Ende des Rundganges trifft man auf den Titel der La Libre Parole vom 15. Mai 1938 mit der Hetzparole „200 Juifs gouvernent la France“, dann auf ein Foto von Madeleine Lévy, der Enkelin von Dreyfus, die im Januar 1944 in Auschwitz an Typhus starb. URSULA WÖLL

Bis 15. April, Jüdischen Museum Frankfurt