: „Irgendwann implodiert die Szene“
Einmal Berlin, das scheint für Anfänger des Theaters ein Muss. Deshalb ist die Freie Szene hier ein Sammelbecken. Heute beginnt das Festival 100 Grad, das über 200 Produktionen des Freien Theaters an vier Tagen zeigt. Ein Gespräch mit Carena Schlewitt, Theaterkuratorin am HAU
taz: Frau Schlewitt, Sie organisieren für das HAU das Festival 100 Grad. Was ist die Idee des Festivals?
Carena Schlewitt: Sehr hochhängend formuliert: Eine demokratische Plattform. Einmal im Jahr öffnen wir die Häuser für die Freie Szene. Jeder, der will, kann unter den vorgegebenen Bedingungen spielen. Dieses Festival ist nicht kuratiert. Alle spielen ohne Geld und bekommen eine halbe Stunde Zeit für den Aufbau, eine Stunde für den Auftritt.
Fast 200 Projekte werden vorgestellt. Haben Sie das alles schon gesehen?
Nein, da sind nur ein paar Leute dabei, die uns im Laufe des Jahres aufgefallen sind. Wir arbeiten für das Festival mit Absolventen der Theaterwissenschaft zusammen und die haben wir ermutigt, in die Szene reinzugehen, wofür uns die Zeit fehlt, und Leute dezidiert anzusprechen.
Diesmal ist zum HAU und den Sophiensälen der Theaterdiscounter als Spielort und Veranstalter dazugekommen.
Ja, so mussten wir niemandem absagen, aber mit drei Orten sind wir logistisch auch an einer Grenze. Der Theaterdiscounter ist auch deshalb wichtig, weil Georg Scharegg Ende 2006 eine Initiative gestartet hat, um ein Netzwerk der freien Berliner Theaterschaffenden zu gründen. Da geht es um Dienstleistungen, Fragen bei Anträgen, Verträgen, Steuer, die Künstlersozialkasse und um Lobbyarbeit und kulturpolitische Vertretung für diese Szene. Das ist sehr wichtig für Berlin. Doch weil die Szene so divers ist, ist das sicher nicht einfach.
Allein letztes Jahr eröffneten das Ballhaus Ost, die Theaterbar, das Radialsystem und Box & Bar am Deutschen Theater. Warum braucht man trotzdem noch ein Festival?
Das ist eine Wechselbeziehung zwischen diesen Orten und dem Festival. Das Festival zeigt, wie groß die Szene ist. Jedes Jahr haben wir mehr Bewerbungen, letztes Jahr 190, diesmal 250. Berlin ist ein Sammelbecken: Viele Absolventen von Schulen aus Gießen, Leipzig, woher auch immer, kommen und fangen hier an. Manchmal denke ich, die Szene implodiert irgendwann.
Und wenn man über die Stadt hinausdenkt …
… dann stößt man auf ein grundsätzliches Problem: Wo sollen diese ganzen freien Künstler und Gruppen eigentlich bleiben und mit welchen Geldern produzieren. Es gibt in Düsseldorf das FFT, den Mousonturm in Frankfurt, bald Kampnagel in Hamburg, dann hört es schon auf. Wie kann man es schaffen, dass auch andere große und mittelgroße Städte solche Kunstzentren gründen? Der Tanz hat in den letzten Jahren eine größere Lobby für sich erzeugt, das Theater nicht. Obwohl das Freie Theater die Stadttheater in den letzten zehn Jahren wie nichts anderes beeinflusst hat, ästhetisch, in der Themenfindung und auch personell, ist da irgendetwas stehen geblieben. Die Freie Szene ist strukturell etwas wie das Forschungslabor des Theaters.
Ist es überhaupt ein realistisches Ziel, dass alle Teilnehmer dieser Theaterszene von ihrer Kunst auch leben können?
Nein. Das ist ja selbst schwer für etablierte Gruppen, die einmal im Jahr mit einer Produktion gefördert werden. Erst die Gruppen, die auch international bekannt sind und touren, schaffen das. Deshalb ist es häufig so, dass Regisseure und kleinere Produktionskollektive ans Stadttheater gehen, zumindest zeitweise. Es fehlen bisher Strategien für längerfristige Existenzweisen.
Trotzdem verändert sich der Begriff Freies Theater. Heute hat die Arbeit mit Amateuren und Laien einen neuen Stellenwert gewonnen.
Das liegt an gesellschaftlichen Veränderungen. Mitte der Neunzigerjahre ging der erste größere Impuls von der Freien Szene in Richtung Stadttheater, mit dem Poptheater, Liveartgeschichten, Stückentwicklungen, angefangen bei Stefan Pucher, Showcase, She She Pop. Dann kam der Einbruch der New Economy, ein größer werdender Sparzwang in kommunalen und sozialen Einrichtungen, der 11. September. Danach merkte man, wie diese Ironie, die Popverliebheit und die Nabelschau zunehmend abgelöst wurde von größerer Ernsthaftigkeit und mehr Auseinandersetzung mit der Realität. Man wollte mehr die Leute, die es wirklich betrifft, befragen und auf die Bühne holen. Doch mittlerweile beginnt man sich auch wieder nach dem Theater, das imaginäre Welten schafft, zu sehnen.
An 100 Grad nehmen ja nicht nur Unbekannte teil. Mit dabei ist ja auch das Prime Time Theater aus dem Wedding, die ja tatsächlich eine eigene Spielstätte haben und immer ausverkauft sind. Was haben die anderen Gruppen voraus?
Was ich da toll finde: Das Publikum ist sehr gemischt, viele Weddinger. Sie lassen sich auf ihr Publikum und deren Geschichten ein; und zwar in einer sehr intelligenten Verbindung mit einer Reflexion der Stadt Berlin. Es hat Boulevardcharakter und handelt wichtige Themen ab, über Migration, Stasi, Familiengeschichten. Ihr erster Impuls ist nicht, etwas zu produzieren, womit man im Kontext der Kunst auffällt, sondern wirklich für die Leute vor ihrer Tür zu spielen.
Das Programmheft hat 80 Seiten, 200 Stunden Theater werden gespielt. Haben Sie eine Gebrauchsanweisung?
Man soll sich bloß keinen Stress machen; keine Angst haben, das Beste zu verpassen. Interview: Katrin Bettina Müller