TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Der Doktor, das Gift und der Baron

Wer hätte je geglaubt, dass die Christkonservativen derart progressiv sein könnten, dass sie voranschreiten könnten, die Krise unserer moralischen Werte in einen wahrhaft avantgardistischen Gedanken zu überführen, in jenen der Umwertung aller Werte, der von Nietzsches Werk „Genealogie der Moral“ stammt und fordert: „Der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen“.

Die konservative Moral kann seit Kurzem nicht mehr als absolute und überzeitliche behauptet werden. Nun dürfen auch die Christdemokraten sie als das betrachten, als das Nietzsche sie betrachtete, als „Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständnis; aber auch […] als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift“. An sich wertlos. Man hört die Konservativen bereits rufen: Nietzsche! Zerstörung der Moral! Debord! Abschaffung der Universität! Welch ein Szenario!

Sind nun einfach die anderen konservativ? Diejenigen, die vor einem Verlust des konservativen, bürgerlichen und bildungsbürgerlichen Wertekodexes warnen? Warum können sie sich nicht über die aufgeführte Farce amüsieren? Viel ist die Rede von Ehre, Glaubwürdigkeit, Anstand – schon lange hat man der Politik nicht mehr so viel zugetraut. Das ist verblüffend. Doktoren ohne Karriere und Leute mit Standesdünkel fühlen sich und die Politik in ihrer Werthaftigkeit verletzt. Das ist erstaunlich. Bedeutet Politik doch weniger das Einhalten von Werten als das Durchsetzen von Interessen.

Da wollte sich ein Baron verbürgerlichen und hat es nicht geschafft. Welch eine Parodie! In Österreich ist das Führen von Adelsbezeichnungen seit 1919 unter Strafe gestellt, die Versessenheit auf akademische Titel hingegen mächtig; die Häme über den edlen Baron, der nun am Wochenende seine Doktorarbeit vielleicht zum ersten Mal gelesen hat, entsprechend groß.

Und nun? Was bleibt, ist die Hoffnung auf die Selbstabschaffung als letzten Akt der Avantgarde.

Tania Martini ist Redakteurin der taz. Foto: privat