: Therapie mit zugedrückten Augen
Wer ohne Papiere in Berlin lebt, vermeidet oft den Gang zum Arzt, weil er eine Abschiebung fürchtet. Daran ändert auch die Gesundheitsreform nichts
Als Frau P. endlich zum Arzt geht, ist die Wunde in ihrer Brust bereits so groß wie eine Faust und riecht nach faulem Gewebe. Die Diagnose: ein bösartiger Tumor in fortgeschrittenem Stadium. „So etwas wächst in anderthalb bis zwei Jahren, wenn der Krebs aggressiv genug ist“, erklärt Adelheid Franz, Leiterin der Malteser Migranten Medizin in Berlin. Frau P. muss sofort operiert werden, es folgt eine Chemotherapie. Warum die Fünfzigjährige nicht schon viel früher zum Arzt gegangen ist? Sie hat keine Krankenversicherung.
Zu den Kernpunkten der gestern vom Bundestag verabschiedeten Gesundheitsreform gehört die allgemeine Versicherungspflicht. „Erstmals in der deutschen Sozialgeschichte wird niemand mehr ohne Krankenversicherungsschutz sein“, heißt es stolz auf der Homepage der Bundesregierung. Das stimmt so leider nicht. Burkhard Bartholome vom Büro für medizinische Flüchtlingshilfe schätzt, dass rund 100.000 Menschen illegal in Berlin leben. „Für diese Leute gibt es so gut wie keine Gesundheitsversorgung“, so der Mitarbeiter der ärztlichen Vermittlungsstelle für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Daran ändert auch die allgemeine Versicherungspflicht nichts, denn die Gesundheitsversorgung von Illegalen wird in diesem Kontext nicht einmal thematisiert.
„Es ist ein Skandal, dass die Politiker vor diesem Problem die Augen verschließen“, sagt Jürgen Hölzinger. Der pensionierte Arzt sitzt im Ausschuss für Menschenrechtsfragen der Berliner Ärztekammer und hat jahrelang Illegale behandelt. „Wenn die Leute hier sind und krank werden, muss man sich kümmern.“ Zwar haben sie laut Asylbewerberleistungsgesetz Anspruch auf Hilfe bei akuter Krankheit und Schmerzen, aber öffentliche Einrichtungen sind gegenüber der Ausländerbehörde meldepflichtig. „Wenn jemand nur für den Preis der Abschiebung Hilfe bekommt, funktioniert das System nicht“, so Hölzinger. „Die Menschen haben solche Angst, entdeckt zu werden, dass sie erst Hilfe suchen, wenn es fast zu spät ist.“ Dadurch erhöht sich nicht nur das Risiko für den Betroffenen: „Wenn jemand an Tuberkulose leidet und in der U-Bahn kräftig hustet, können sich andere anstecken.“
Laut Hölzinger behandeln über 120 Ärzte in Berlin illegale Einwanderer anonym. Eigentlich machen sie sich strafbar – sie müssten diese Patienten melden. Doch Innensenator Ehrhart Körting (SPD) hat zugesagt, dass es keine Strafverfolgung von Ärzten gibt. „Als wir vor 10 Jahren unser Büro eröffneten, wussten wir nicht, ob wir strafrechtlich verfolgt werden“, sagt Bartholome. „Es hat sich aber gezeigt, dass daran kein Interesse besteht.“ Die Politiker seien sogar sehr zufrieden mit der Situation.
Roswitha Steinbrenner, Sprecherin von Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS), erklärt mit Verweis auf die Meldepflicht, den Behörden seien die Hände gebunden: „Wir können uns nur um die kümmern, die uns bekannt sind.“ Natürlich sei man daran interessiert, dass alle Menschen medizinisch versorgt werden. Aber es gebe ja genügend Angebote, bei denen man die Augen zudrücke. „Mir ist noch nicht bekanntgeworden, dass die Angebote nicht ausreichend gewesen wären“, so Steinbrenner.
Diese Argumentation nennt Bartholome eine „Frechheit“. Denn die Mitarbeiter der medizinischen Flüchtlingshilfe arbeiten alle ehrenamtlich, die Behandlungen finanzieren sie aus Spenden: „Wir nehmen eine Lückenbüßerfunktion ein. Das ist der Widerspruch, in dem wir uns befinden.“ KATHRIN HEDTKE
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