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Archiv-Artikel

Regierungschef tritt nach heftigen Protesten zurück

TUNESIEN Die Polizei geht gegen Oppositionelle vor. In Tunis kommt es zu Straßenschlachten

Weit über 100.000 Menschen aus dem ganzen Land zogen durch die Stadt

MADRID taz | Der Chef der tunesischen Übergangsregierung, Mohammed Ghannouchi, hat auf einer Pressekonferenz am Sonntagmittag in Tunis seinen Rücktritt erklärt. Ghannouchi hatte über 11 Jahre lang bereits unter dem am 14. Januar 2011 gestürzten Diktator Zine El Abidine Ben Ali als Regierungschef gedient.

Der Rücktritt folgt Massendemonstrationen gegen ihn und für die Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung am Wochenende. „Verschwinde, Ghannouchi!“, riefen über 100.000 Protestierende, die aus dem ganzen Land in die Hauptstadt gereist waren. Ghannouchi beschuldigte „verschiedene Parteien“, ihn nicht arbeiten zu lassen. „Ich bin nicht bereit, Entscheidungen zu treffen, die Todesopfer fordern“, erklärte er zur Begründung für seinen Rücktritt.

Tunesiens Polizei war das ganze Wochenende über gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen. Am Samstag kamen dabei in Tunis drei Demonstranten ums Leben. Ein Dutzend Menschen wurde zum Teil schwer verletzt, über 100 wurden festgenommen. Auch im Landesinnern, in der Stadt Kasserine, kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Ghannouchi-Gegnern.

Der erneute Ausbruch der Gewalt begann am Freitag kurz vor 19 Uhr. Völlig überraschend griff die Polizei eine Zehntausende zählende Demonstration auf der Avenue Habib Bourguiba. Vor dem Innenministerium gab die Polizei Warnschüsse ab und schoss Tränengas in die Demonstration, die bis dahin festliche Züge hatte. Weit über 100.000 Menschen waren stundenlang durch die Stadt gezogen, um die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung einzufordern. Um weitere Proteste vor dem Innenministerium zu verhindern, hat die Polizei mittlerweile die Avenue Bourguiba für Pkws und Fußgänger gesperrt.

Ghannouchi hatte angekündigt, dass noch vor Mitte Juli erste freie Wahlen abgehalten werden sollen. Ob es sich dabei um Parlamentswahlen handeln wird – wie die Demonstranten fordern – oder um Präsidentschaftswahlen – was große Teile der Bevölkerung aus Angst vor einem neuen starken Mann im Staate ablehnen –, hatte er offengelassen. Gegenüber einer Bürgerrechtlerdelegation hatte Ghannouchi versprochen, dass die Übergangsregierung noch vor dem 1. März zur Frage einer verfassunggebenden Versammlung Stellung beziehen wird. REINER WANDLER