: Mobilste der Parteien
■ Die Sozialdemokraten waren in ihrer langen Geschichte ständig auf Wanderschaft - und trotzdem in Berlin zu Hause
Die Geschichtsschreibung der SPD beginnt am 23. Mai 1863 mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) durch Ferdinand Lassalle in Leipzig. Doch schon fünf Jahre später, im September 1868, wurde der ADAV dort zum ersten Mal verboten. Im Oktober 1869 bezog er Quartier in Berlin. Im Juni 1874 folgte auch hier das Verbot – die Zentrale ging nach Bremen.
1869 gründeten August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), deren erster Sitz Braunschweig und danach Dresden, Leipzig und zuletzt Hamburg waren. Die Hansestadt bot sich vor allem wegen ihres vergleichsweise liberalen Vereinsgesetzes als Hort sozialdemokratischer Umtriebe an.
Im Mai 1875 schlossen sich SDAP und ADAV auf dem „Einigungsparteitag“ von Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) zusammen. Sitz der neuen Partei war wiederum Hamburg. Schon 1876 wurde die SAP in Preußen, Bayern und anderen Bundesstaaten des Reiches verboten. Aus formaljuristischen Gründen nannte der Vorstand sich deshalb „Zentralwahlkommitee“ – erster Schritt in die komplette Illegalität, die mit dem „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ im Oktober 1879 eintrat. Die damit schon wieder verbotene Partei hatte jedoch paradoxerweise nach wie vor eine Reichstagsfraktion, die nunmehr von Berlin aus die mehr oder weniger konspirative Führung übernahm.
Erst 1890 – das Sozialistengesetz wurde vom Reichstag nicht wieder verlängert – konnte der Parteitag in Halle die Neuorganisation der SAP in Angriff nehmen. Der Name wurde in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD) geändert, Sitz des Vorstands sollte Berlin sein. Doch war die SPD keineswegs finanzkräftig genug, sich entsprechende Räume zu mieten oder gar selber zu bauen. Statt dessen eröffnete sie ihr Büro in der Wohnung des Reichstagsabgeordneten Ignaz Auer in der Katzbachstraße 9 – einer durchaus „gehobenen“ Wohngegend, die sich wegen der nahe gelegenen Kasernen vor allem bei Offiziersfamilien großer Beliebtheit erfreute. Erst im März 1900 konnte die damals schon seit zehn Jahren „stärkste der Parteien“ in der Kreuzbergstraße 30 – keine 50 Meter von Auers Privatwohnung entfernt – ein richtiges Büro eröffnen.
Im Oktober 1902 eröffnete in der Kreuzberger Lindenstraße 69 – einen Katzensprung vom heutigen Willy-Brandt-Haus entfernt – der Vorwärts sein neues Verlags- und Druckereigebäude. Mittlerweile hatte die Parteiorganisation auch finanziell einige Schlagkraft gewonnen und für den Bau die damals sehr ansehnliche Summe von rund 500.000 Mark durch Spenden von Parteimitgliedern und Darlehen der Gewerkschaftsorganisationen aufgebracht. Im Januar 1905 zog schließlich auch der SPD- Parteivorstand in das Vorwärts- Gebäude.
1914 folgte der nächste Umzug, allerdings nur ein paar Meter weiter, in die Lindenstraße 3, von wo aus sich der gesamte Komplex – neben Vorwärts und Parteivorstand auch die SPD-Parteischule – nach und nach ausbreitete. 1925 belegten die Sozialdemokraten in mehreren Gebäuden insgesamt rund 27.000 Quadratmeter Fläche – rund fünfmal soviel, wie sie dereinst im Willy-Brandt-Haus nutzen wollen. Nach dem Verbot der Partei durch die Nazis im Juni 1933 mußte der Parteivorstand aus dem Ausland operieren: Prag, Paris und London waren die Stationen, aber auch an anderen Orten bildeten sich Auslandsorganisationen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierte sich unter dem späteren Vorsitzenden des DDR-Ministerrats, Otto Grotewohl, ein „Zentralausschuß“ mit Sitz in der Berliner Behrenstraße, der seinen Führungsanspruch für die gesamtdeutsche Sozialdemokratie anmeldete. Das gleiche tat das „Büro Dr. Schumacher“ in Hannover – zunächst nur für die damaligen „Westzonen“, nach der Gründung der SED im April 1946 dann für ganz Deutschland.
1950 zog die Sozialdemokratie nach Bonn, in eines der bekanntesten Provisorien der deutschen Nachkriegspolitik: die „Baracke“. Wie so vieles in der vorläufigen Hauptstadt Bonn dauerte auch diese Lösung erstaunlich lange an. Erst 1975 wurde mit dem Erich-Ollenhauer-Haus wieder eine richtige Parteizentrale eingeweiht.
Als der Bundestag am 20. Juni 1991 seinen Umzug nach Berlin beschloß, waren die Sozialdemokraten – nicht zuletzt auf Druck Willy Brandts – von allen am schnellsten: Noch im selben Monat beschlossen sie, den Sitz der Partei an die Spree zu verlegen, wo der Vorstand im übrigen immer ein „Berliner Büro“ unterhalten hatte. Im Jahr darauf erwarb die SPD vom Land Berlin das Grundstück Wilhelm- Ecke Stresemannstraße, und wiederum ein Jahr später, am geschichtsträchtigen 9. November, erfolgte schließlich die Grundsteinlegung für den heute feierlich zu eröffnenden Neubau. Jochen Siemer
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