theorie & technik : Lob der Bindestrichidentitäten
lntegration ist auch eine Emanzipation von der Herkunftsgemeinschaft, die ganz neue Lebensentwürfe schafft
Der türkischstämmige TV-Moderator Birand Bingül hat in der Zeit ein, man kann es nicht anders nennen, Manifest veröffentlicht. Unter dem Titel „Deutschtürken, kämpft selbst für eure Integration!“ ruft er diese auf, sich zu einem „Aktionsbündnis Integration“ zusammenzuschließen. Das Großartige an diesem Aufruf ist, wie er das Problem positioniert: Er definiert Integration sowohl in Bezug auf das Außen der deutschen Mehrheitsgesellschaft als auch in Bezug auf den inneren Rückzug in eine Parallelgesellschaft. So soll das Aktionsbündnis sowohl Staatsbürgerrechte erstreiten als auch in die türkischen Communities hineinwirken. Für Letzteres gibt er die Parole aus: Runter von der Straße! Raus aus den Teestuben!
Die Integration, die hier gefordert wird, bedeutet nicht, dass Türken zu Deutschen werden sollen. Es ist keine Assimilation im Sinne jenes nordamerikanischen Rituals des 19. Jahrhunderts, bei dem Neuankömmlinge „im Durchgang durch eine Scheune ihre nationalen und regionalen Trachten ablegten und als Amerikaner neu eingekleidet am anderen Ende herauskamen“, wie es Elisabeth Bronfen beschrieben hat. Nicht um Assimilation geht es, sondern um Emanzipation – so könnte man mit Hannah Arendt sagen. Wobei diese Emanzipation eben nicht nur politische Gleichberechtigung meint, wie zum Beispiel das Ziel eines Wahlrechts für alle hier Geborenen oder dauerhaft hier Lebenden. Sie meint eben auch eine Emanzipation von der Herkunftsgemeinschaft, die sich schon alleine dadurch vollzieht, dass so ein Bündnis überhaupt geschlossen wird.
Denn natürlich bedeutet bereits ein Zusammenschluss, der für die eigene Integration kämpft, einen Bruch mit allen traditionalen Gemeinschaften. Man muss diese beiden Momente zusammendenken, um zu verstehen, dass es Birand Bingül mit seinem Konzept von Integration eigentlich um die Entwicklung einer neuen Identität geht. Jene, die er hier im klassischen Sinne anruft, sind weder Türken noch Deutsche, sondern eben Deutschtürken oder Deutsch-Türken-Bindestrich-Identitäten also, wie sie Stuart Hall, der Begründer der Cultural Studies, bezeichnet hat. Das sind jene Identitäten, die sich keiner ethnischen oder kulturellen Abschottung verdanken, die also keiner Gemeinschaft ganz angehören – auch keiner „längst vergangenen Türkei“, wie sie laut Bingül „in manchen deutschen Stadtvierteln konserviert wird“. Sich als Deutsch-Türke zu integrieren, bedeutet, sich als Türke zu emanzipieren – jenseits von Assimilation und jenseits von Parallelgesellschaft.
Sich als Deutsch-Türke zu verstehen, heißt, sich all dessen zu entledigen, was man einer Identität traditionellerweise zuspricht: Homogenität, Eindeutigkeit, Bestimmtheit. Denn es handelt sich um eine Identität, die sich aus der Erfahrung einer Diskontinuität, einer Differenz speist: eine Identität, die „mit und von der Differenz lebt“ (Stuart Hall). Der Bindestrich-Türke akzeptiert seine Situation, „drinnen und draußen zu sein … Du bist der ‚bekannte Fremde‘. Wir nannten das früher Entwurzelung. Aber heute ist das zum archetypischen spätmodernen Zustand geworden“, formuliert es Hall weiter.
Was aber geschieht, wenn die Deutsch-Türken ihre hybride, dezentrierte Identität akzeptieren? Wenn sie aufhören, sich hinter imaginären Türkei-Idyllen zu verschanzen? Deren kulturelle Fülle denunziert das Manifest als Simulation, da diese längst durch die Erfahrungen in Deutschland gebrochen sind. Was ist, wenn die Migranten Bingüls Aufruf folgen und um ihre Integration kämpfen würden? Dann würden sie ihr potemkinsches Dorf verlassen – aber nicht, um sich im deutschen Mainstream einzureihen, um darin aufzugehen, sondern um das zu werden, was sie sind: eine Diaspora-Gemeinschaft.
Damit ist keineswegs eine verstreute Gemeinschaft gemeint, die sich nur über die gelobte Heimat ihrer Identität versichert und von Rückkehr träumt. Längst haben die Kultur- und Sozialwissenschaften einen neuen Diaspora-Begriff entwickelt, zur Erfassung ebensolcher Gruppenbildungen, die sich über Bewegung, Diskontinuität und Heterogenitätserfahrungen herstellen. Im Unterschied zum Multikulturalismus, der den Anderen von außen, als meinen Anderen, betrachtet, nimmt der Diaspora-Begriff einen Perspektivwechsel vor, durch den sich hybride Identitäten selber betrachten können: etwa als Deutsch-Türken in ihrer Allianz.
Man darf sich übrigens nicht täuschen: Bingüls Appell betrifft uns tatsächlich alle. Denn sollte er Erfolg haben, sollte sich sein Konzept des diasporischen Deutsch-Türken durchsetzen, dann hätte dies natürlich Auswirkungen auf das gesamte politische Dispositiv der Bundesrepublik. In diesem würden dann Deutsch-Türken auf eine neue Spezies von Bindestrich-Identitäten treffen: auf Nicht-Türkische-Deutsche.
ISOLDE CHARIM