Der König in Unterhosen

Der tiefergehängte Klassiker: Er glaubt nicht mehr an das humanistische Bildungsprogramm noch an den Fluchtpunkt Idealismus. Stattdessen rührt sein Versuch an, für die Figuren glaubhafte Charakterbilder der Gegenwart zu finden. Wie für das Weichei „Don Karlos“ am Deutschen Theater Berlin

Nach dem wiedererkennbaren Klassiker zu rufen: lange Zeit bevorzugter Sprechakt konservativer Theatergänger. Wenn nicht alles täuscht, sind diese Debatten ruhiger geworden. Viele Stadttheater haben Wege gefunden, Publikumsbedürfnisse nach Anschluss an die deutsche Kulturnation mit avancierten Theaterformen zu verbinden. Zur Not streut man einen Liederabend in den Spielplan, dann kann man am nächsten Abend ruhig wieder anstrengend werden.

Hat da derzeit vielleicht jemand Lust, nach dem wiedererkennbaren Antiklassiker zu rufen? Nö. Niemand. Selbst wenn gelegentlich eine Verniedlichung der Klassiker beklagt wird. Insgesamt, diesmal als Generalthese, ist die Zeit des berserkerhaften Wühlens im klassischen Erbe sowieso vorbei. Auch nach Nicolas Stemanns Inszenierung von Schillers „Don Karlos“, die am Deutschen Theater in Berlin Premiere hatte, ist das nicht anders. Aber die Inszenierung gibt zumindest Anlass, nachzufragen, was von so einem Gebirge von Stück bleibt, wenn die großen Erzählungen ausgeleiert oder, wie im Schillerjahr 2005, nett abrufbar, ansonsten aber uninteressant geworden sind. Und zwar beide großen Erzählungen – die von humanistischen Bildungsprogrammen und Freiheitspathos einerseits und die von ideologiekritischen Entlarvungen von unterdrückter Sexualität und politischen Fluchtbewegungen ins Idealistische andererseits.

Was unbedingt bleibt: großartiges Spielmaterial für einen bunten Theaterabend. Das ist gar nicht bös gemeint, zumal Stemann immer wieder Momente findet, in denen es großen Spaß bringt, im Zuschauerraum zu sitzen. Schillers berüchtigte Tür-auf-Tür-zu-Dramaturgie hat er auf eine Drehbühne gesetzt, so kann die Inszenierung behände zwischen der Zentrale der Macht und den Nebenschauplätzen der Lust hin und her zappen.

Eine Anordnung, die viel Platz für Slapstick gibt. Wunderbar, wie Philipp Hochmair als Don Karlos das Schlafzimmer der Königin sucht und, nachdem er in dem der Prinzessin von Eboli gelandet ist, ruft: „Ich hab das rechte Kabinett verfehlt.“ Das hat nicht nur Woody-Allen-Qualität. Das hat diese Qualität vor allem deshalb, weil hier der klassische hohe Ton gut auf den im Grunde Soap-Opera-Gehalt dieser Szene trifft.

Dem Don Karlos hat Nicolas Stemann alles Heldische ausgetrieben. Er ist hier das verzogene Kind, das nicht kriegt, was er will (die Königin nämlich), und das sich von den anderen Figuren ansonsten mal in die eine Richtung (Flandern befreien) schieben lässt und mal in die eigene Trotzköpfigkeit zurückfällt. Ein Weichei-Karlos, dafür hat Stemann Raum, die anderen Figuren stark zu machen. Constanze Becker darf als Prinzessin Eboli vorführen, wie man als Schauspielerin innerhalb von zehn Minuten den Bogen von der großen Liebenden zur mindestens ebenso großen Enttäuschten und Hassenden spannen kann. Ingo Hülsmann hat als König von Spanien einen großen Auftritt sowohl im gediegenen Zweireiher als auch in Unterhosen – was hübsch die Verknüpfung von Staatsaffäre und Familiendrama in dem Stück spiegelt. Die Königin wird von Katharina Schmalenberg illusionslos gespielt. Von den anderen Figuren bleibt nur der fiese Herzog von Alba im Gedächtnis, Henning Vogt packt in dieser Rolle so entschlossen zu wie ein deutscher Handballweltmeister.

Dann ist da allerdings noch Alexander Khuon (der Sohn des zukünftigen Intendanten Ulrich Khuon) als Marquis von Posa. Für ihn hat sich Stemann etwas Besonderes ausgedacht. Er versucht über weite Strecken die von Karlos freigegebene zentrale Rolle neu zu füllen: als Idealist, der sich allmählich in dem Gang durch die Institutionen des Königshofes verheddert, in die ihn seine eigenen, gut gemeinten Intrigen geführt haben. Dieser Posa ist so etwas wie der Knackpunkt dieser Inszenierung. Man freut sich als Zuschauer, dass hier ein Ansatz gewagt wurde, dieses Stück für die Gegenwart interessant zu machen. Zugleich aber sieht man deutlich, dass das im Grunde ein Rettungsversuch ist – den man eher rührend findet, als ihm tatsächlich zu glauben. Stemann möchte dem Stück vertrauen und sucht Wege, es in einer Lage der tiefergehängten Klassik spielbar zu halten. Das gelingt gut. Mehr kann man womöglich nicht verlangen.

Wovon man vielleicht sowieso nach dem Ende der großen Erzählungen Abschied nehmen muss: von dem Anspruch, mit den Klassikern die zentrale Fragen der Gesellschaft zu behandeln. Da hilft es auch nichts, dass Stemann am Schluss noch Filmchen einspielen lässt, die sehr nach Partisanenkampf und Geiselnahmen aussehen. Auch sie bleiben Theater. DIRK KNIPPHALS