: Respekt und Entlarvung
Spiel mit Identitäten und der deutsch-jüdischen Geschichte: Der Badische Kunstverein präsentiert Fotos der amerikanischen Künstlerin Collier Schorr
von GEORG PATZER
Ein strahlend blauer Himmel. Der Blick schweift sanft in die Ferne, zum schönen bergverzierten Horizont. Ganz vorne ragt ein kleiner Zaun ins Bild, der dünne Draht ist zwischen den Holzpfählchen gespannt, ein paar Blümchen schaukeln im sommerlichen Wind. Aber eine gelbe Blume ganz oben ist am Draht festgehakt, wie auf einer Wäscheleine aufgehängt, ein Gras mit roter Blüte ist hart festgezurrt. Ein absurdes Arrangement, das die Poesie der unberührten Natur jäh zerstört, den ganzen schönen romantischen Ausblick zunichte macht.
Aber vielleicht ist er das ja schon lange. Die amerikanische Fotografin Collier Schorr nähert sich der deutschen Natur auf ihre Weise: drastisch, mit grell ausgeleuchteten Blümchen, die aussehen, als wären sie am Computer nachkoloriert. Deutsche Romantik? Blümchenpoesie? C.-D.-Friedrich-Ausblicke? Die will sie nicht haben.
Aber Farbfotos sind selten in ihrem Werk. Im Badischen Kunstverein Karlsruhe präsentiert sie in ihrer ersten deutschen Einzelausstellung vor allem großformatige Schwarzweißfotografien, Porträts von Bekannten und Freunden aus Schwäbisch Gmünd, das sie seit über 18 Jahren jeden Sommer für einige Wochen besucht. Aber auch diese Fotos in verschiedenen Formaten sind keine romantisierenden Ansichten. Schon gar keine normalen Abbilder: Collier Schorr arbeitet mit ihren Protagonisten, gibt ihnen Rollen und lässt sie verschiedene Facetten ihrer Persönlichkeit und Emotionen ausprobieren. Und sie lässt die Interpretation völlig offen.
So zeigt sie in „Shrapnel“ einen Jugendlichen, der Wunden auf dem Rücken präsentiert, an der Wirbelsäule, an der linken Schulter. Der Titel legt nahe, dass es Kriegsverletzungen sind, sie stammen aber von einem Skateboard-Unfall. Ein Mädchen zeigt von hinten ihr blondes, wallendes Haar, das übergangslos in die Halme der blühenden Wiese übergeht. Einen kleinen Buben zeigt sie in einer Lederhose, wie man sie vor sechzig Jahren noch getragen haben könnte.
Viele ihrer Bilder verweisen auf die deutsche Geschichte, mit der die jüdische Künstlerin in Schwäbisch Gmünd konfrontiert war. Es war eine fremde und befremdende Welt, in der sie die Außenseiterin war. Verwundert war sie über den Umgang mit dem deutschen Patriotismus: Die einzige Flagge im Ort wehte über der US-Army-Base. An einem Hausgiebel fiel ihr die Inschrift „ANN FRAN“ auf: „Ich merkte, dass ich etwas sah, was sonst niemand sah. Keinem der Einwohner ist das je aufgefallen.“ Deswegen sieht man auf einigen Fotos Jugendliche, die eine Naziuniform tragen. Sie stehen in der Gegend, in der ihre Großeltern ihre Uniformen einst vergraben haben. Ein junger, sehr blonder Mann trägt eine SS-Uniform, hält einen Stahlhelm in der Hand und sieht in eine ungewisse Zukunft. Gebrochen wird diese rechtsradikale Stilisierung durch Äpfel und Orangen im Helm.
Schorrs Bilder sind perfekt inszeniert, gestochen scharf, mit einem studiohaft künstlichen Aufbau, bis ins kleinste Detail durchkomponiert. Sehr distanziert beobachtet Schorr ihre Umwelt, und dennoch liegt etwas Geheimnisvolles und Unbestimmtes in den Fotos. Einerseits besitzen die Aufnahmen eine Eindringlichkeit, etwas scharf Analytisches und trotzdem eine große persönliche, fast private Nähe zu den Abgebildeten. So nähert sie sich auch den Modellen mit einer Mischung aus Respekt und Entlarvung, liebevoll, anteilnehmend und gefühlvoll. Wie dem jungen Mann, der für sie die SS-Uniform anzog. Schorr erzählt: „Beim Anziehen ist er durch alle Stadien von Gefühlen gegangen: Staunen, Angst, Scham, Wut. Er hat quasi die emotionale Geschichte Deutschlands in einer halben Stunde durchlebt.“ So nah war er seiner eigenen Geschichte wohl noch nie gekommen.
Vier Vitrinen zeigen im Badischen Kunstverein den Ausgangspunkt ihrer Gefühle und Überlegungen: Sammlungen von kleinen Bildern, die sie zu einem Thema komponiert, Bücher und Zeitschriftenausschnitte dazulegt. Zum Beispiel München 1972: Da liegt das Foto eines Freundes, der sich eine Jarmulke aufgesetzt hat neben einem Foto eines Jungen mit einer maskenhaften Skimütze; ein Zeitungsausschnitt über israelische Schwimmer liegt neben dem Bild des siebenfachen Goldmedaillengewinners Mark Spitz. Mit solchen Ensembles erforscht sie bildhaft auch ihre eigene Geschichte und unsichere Identität als Jüdin, als Tochter eines Armeefotografen, der sich einmal mit geliehenen Orden ablichtete, als Amerikanerin nach Vietnam- und Irakkrieg.
Immer wieder spielt auch die ungewisse Identität von Jugendlichen eine Rolle, androgyne Gestalten sind zu sehen, noch unfertige. Wie in dem kurzen Film von einem jungen Menschen in einer Uniform: Da wird gar nicht erkennbar, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Oder auf den vielen Fotos von Jugendlichen, die so sicher und unsicher zugleich in der Sommerlandschaft stehen.
Collier Schorrs Werk ist sehr vielschichtig. Ihre Fotos sind uneindeutig, erzählen viele Geschichten gleichzeitig, sind nicht festzulegen, sei es auf „jüdische Kunst“ oder Gender Studies. Sie sind hochreflektiert, spielen mit den Genres ebenso wie mit der Geschichte der Fotografie, der Weltgeschichte und den wechselnden Identitäten. Und haben dennoch einen großen, eigenen ästhetischen Reiz.
Bis 18. 3., Katalog (Steidl-Verlag) 38 €