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Archiv-Artikel

Gabors kleine Geisterbahn

In seinem neuen Buch „Weltkrieg um Wohlstand“ schürt Gabor Steingart die Angst vor den aufstrebenden Wirtschaftsmächten China und Indien – und empfiehlt Schutzzölle

VON HANNES KOCH

Der Ton hat sich geändert. Kannte man den Spiegel-Journalisten Gabor Steingart in den vergangenen Jahren als Propagandisten der neoliberalen Reformation, so schreibt er nun in seinem neuen Buch „Weltkrieg um Wohlstand“ Nachdenkliches: „Wenn der Rückbau des Wohlfahrtsstaates klug und fair vonstatten geht, wird er die wirklich Bedürftigen verschonen. Das Soziale ist in Europa nicht verhandelbar.“

Trotzdem schürt der Autor auch die Angst seiner Leser. Eine seiner zentralen Thesen ist: China und Indien übernehmen langfristig das Kommando in der Weltwirtschaft. Sie stellen ähnlich gute Produkte her wie die alten Industriestaaten, allerdings mit viel billigeren Arbeitern, ohne Gewerkschaften, soziale Sicherung und Umweltschutz. Gegen diesen modernen Manchester-Kapitalismus könnten Nordamerika, Europa und Japan mit ihren teuren Wohlfahrtsökonomien nicht bestehen: Im Gegensatz zur Schönfärberei der westlichen Politiker wiegen die Nachteile, die die Globalisierung verursacht, schwerer als die Vorteile.

Steingart untermauert seine These, indem er Paul A. Samuelson interviewt. Der US-Ökonom und Träger des Nobelpreises für Wirtschaft erklärt, „dass die Gewinne der Gewinner die Verluste der Verlierer im Westen derzeit nicht mehr ausgleichen“. Samuelson weiter: „Die Globalisierungsbilanz für Länder wie Deutschland oder Amerika ist seit geraumer Zeit negativ.“

Was Steingart verschweigt: Diese Idee hat Samuelson 2004 in einem Artikel für das Journal of Economic Perspectives aus theoretischen Modellberechnungen abgeleitet und als eine Möglichkeit der realen Entwicklung beschrieben. Empirisch allerdings ist das unter Wirtschaftsforschern höchst umstritten. Eindeutig ist nur die Alltagserfahrung: Arbeitsplätze werden von Deutschland nach Osteuropa oder Asien verlagert.

Peter Bofinger hält Steingart zu Recht entgegen, dass er die Verluste der alten Industrie überbewertet, die Zugewinne bei den neuen Dienstleistungen hingegen unterschätzt. Auch wenn Siemens seine Mobilfunksparte einstellt, baut SAP seine Softwareproduktion und Beratungsleistung aus. Dass dieser Strukturwandel in Deutschland zuletzt nicht richtig funktioniert habe, liege an deutschen Spezialproblemen. Die dynamische Entwicklung in Großbritannien oder Finnland würden Steingarts pessimistische Einschätzung der Erneuerungskraft der alten Industrieländer aber grundsätzlich widerlegen.

Wie subjektiv Steingarts Analysen ausfallen, belegen einige eindrucksvolle Diagramm-Tafeln. Sie zeigen, wie die Wirtschaftskraft Chinas zwischen 1820 und 2050 wächst. Die Tafeln belegen allerdings auch: Selbst unter den scheinbar widrigen Bedingungen der Globalisierung nimmt die ökonomische Leistung Europas bis 2050 noch um 50 Prozent zu. Und trotz der beängstigenden chinesischen Aufhol- und Überholjagd beträgt das europäische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf dann fast 50.000 Dollar, während es in China lediglich 31.000 Dollar sind.

Die zweite zentrale These des Buches lautet: Die alte Welt sei nicht nur gezwungen, den teuren Sozialstaat zu modernisieren und die Staatsverschuldung abzubauen, sie müsse sich auch von der Ideologie des freien Welthandels verabschieden und auf die heilsamen Kräfte des Protektionismus besinnen. Nur mit Zöllen gegen chinesische Importe lasse sich die Dumpingkonkurrenz abwehren. So etwas habe schon oft in der Geschichte funktioniert, meint Steingart. Ohne die Kontinentalsperre Napoleons gegen Großbritannien und die Schutzzölle des Deutschen Zollvereins im 19. Jahrhundert hätte sich der Wohlstand des alten Kontinents nicht so schnell entwickelt.

Was Steingart übersieht: Damals war Deutschland weniger entwickelt als Großbritannien und schützte sich gegen die fortgeschrittene britische Konkurrenz, die über modernere Güter und produktivere Fertigungsmethoden verfügte. Gegenwärtig dagegen beheimatet kaum ein anderes Land eine derart konkurrenzfähige Exportindustrie und ist so sehr auf einen barrierefreien Welthandel angewiesen wie Exportweltmeister Deutschland.

Von den Problemen abgesehen, die den beiden Kernthesen Steingarts anhaften, bietet sein Buch jedoch viele gute Anknüpfungspunkte für Kritik am politischen Mainstream. So beklagt Steingart die Abwesenheit von freien Gewerkschaften in China – einen von vielen Umständen, die es den dortigen Produzenten ermöglichen, konkurrenzlos billige Produkte anzubieten. Die Schlussfolgerung des Autors: Die Verpflichtung, unabhängige Gewerkschaften zuzulassen, müsste in die internationalen Verträge der Welthandelsorganisation WTO integriert werden, die sich bislang ausnahmslos dem Freihandel widmen. Diesem Vorschlag würde auch die globalisierungskritische Organisation Attac zustimmen.

Zudem könne die Sanierung der defizitären öffentlichen Haushalte nicht gelingen, so Steingart, ohne dass den Besitzern großer Vermögen ein Sonderbeitrag abverlangt werde, der über die bislang gerade in Deutschland eher symbolische Kapitalbesteuerung hinausgehe. Der Wirtschaftsliberalismus der vergangenen drei Dekaden hat abgewirtschaftet – das ist auch bei der Lektüre dieses Buches deutlich zu spüren.

Gabor Steingart: „Weltkrieg um Wohlstand. Wie Macht und Reichtum neu verteilt werden“. Piper Verlag, München 2006, 384 Seiten, 19,90 Euro