: Die Schule des Fühlens
TASTEN Architektur ist mehr als das, was man sieht. Ein Besuch im Regensburger Blindeninstitut
Sichtbeton: Flurwand mit eingelassenem LichtelementKirschholzfurnier: Gelochte Wand in der TurnhalleFeinbeton: Noppenbelag am Boden der Turnhalle
VON ANNE WAAK
Leonie steht von ihrem Schreibtisch auf. Sie läuft durch das Klassenzimmer in Richtung ihrer Lehrerin. Auf halbem Weg stößt das siebenjährige Mädchen mit einem im Weg stehenden Rollhocker zusammen. Leonie lacht vergnügt, stützt ihren Oberkörper auf dem Gefährt ab und fährt damit mehrmals gegen den hölzernen Rammschutz, der auf Fußhöhe die Wand des Klassenzimmers verkleidet. Die Lehrerin erklärt ihr unterdessen, dass sie lernen muss, welchen Gegenstand sie wohin stellt, um solche Zusammenstöße zu vermeiden. Denn Leonie ist blind.
Am Regensburger Blindeninstitut geht sie mit circa 120 anderen blinden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen zur Schule, zu der auch eine Tagesstätte gehört. Die meisten von ihnen weisen außerdem weitere Behinderungen auf; die Architektur des Hauses soll ihnen helfen, ihre individuellen Fähigkeiten zu entdecken und zu nutzen.
Die Architekten des Berliner Büros Georg Scheel Wetzel wurden während der Planung mit Brillen ausgestattet, die eine Sehbehinderung simulieren, und verbrachten ganze Nachmittage in einem stockdunklen Raum. So bekamen sie ein Gefühl dafür, worauf es beim Bau eines Gebäudes für Sehbehinderte ankommt. Das Ergebnis dieser engen Zusammenarbeit ist das mit mehreren Architekturpreisen ausgezeichnete Blindeninstitut. Ein flaches, lang gezogenes Gebäude aus grün-grauen Kohlebrandziegeln am Stadtrand von Regensburg.
Die Architekten beschäftigten sich bei der Planung des Baus in besonderem Maße mit der Wirkung von Materialien. Ihr Ansatz: Die Wahrnehmung unserer Umgebung geschieht auch im Durchschreiten des Raumes und im Abtasten der Oberflächen. Ziel war es, mit dem Blindeninstitut eine reizarme Umgebung zu schaffen, die sparsam mit der Wirkung verschiedener naturbelassener Stoffe umgeht.
Keinesfalls aber sollte ein Schonraum errichtet werden, für den die Kinder in der Außenwelt keine Entsprechung vorfänden. Sie entschieden sich mit rötlichem Holz, mattgrauen Sichtbetonwänden und Böden aus matt geschliffenem Muschelkalk für eine ruhige, wohnliche Atmosphäre und klar auszumachende Kontraste. Das Gebäude soll gefühlsmäßig erlebbar werden, auch über die Haptik seiner Materialien.
Die leichte Hanglage des weitgehend ebenerdig angelegten Gebäudes wird durch ansteigende, rollstuhlgerechte Flure ausgeglichen. Eine Schülerin läuft schwungvoll den Gang hinab, grüßt fröhlich. Die andere Hand streicht über das glatte Kirschholz des sich durch das gesamte Haus ziehenden Handlaufs. Ebenso wie die porösen Sichtbetonwände lädt das warme Material geradezu zum Anfassen ein.
An einer Treppe stehend erläutert der stellvertretende Institutsleiter Stephan Hußlein die taktile Leitlinie: Der Handlauf beginnt gut zwanzig Zentimeter vor dem ersten Absatz. „Wäre es anders, würden Blinde ihn erst zu fassen kriegen, wenn sie bereits die erste Stufe heruntergefallen wären.“
Auf dem Boden weisen grob gerasterte Noppenfelder auf Treppen, Fahrstühle und Wände hin. Ähnliche Felder grenzen das Spielfeld der Turmhalle ein. Hier bewegen sich die Kinder schneller als auf den Fluren des Gebäudes. Sie müssen deshalb nachdrücklicher, mit höheren Noppen aus festerem Material, auf Hindernisse hingewiesen werden.
Entscheidend für eine leichte Orientierung ist dabei, dass solche Leitelemente, aber auch die Wege und Räume selbst, im rechten Winkel angelegt sind. Denn die meisten blinden Menschen durchmessen eine ihnen bekannte Umgebung durch das Zählen ihrer Schritte und indem sie sich einprägen, wo sie in welchem Winkel abbiegen müssen. Sanft verlaufende Kurven würden da nur verwirren.
Neben solchen architektonischen Hilfen passen die Nutzer selbst das Gebäude an ihre Bedürfnisse an: An der Tür zum Schwimmbad hängt ein schwarzes Rechteck in doppelter Postkartengröße, darauf klebt ein gelbes, weithin erkennbares und zudem tastbares Stück Schaumstoff. Außerdem steht dort sowohl in Blinden- als auch in großer Druckschrift „Schwimmbad“.
Im Klassenzimmer setzt sich Leonie zurück an ihren Schreibtisch. Wie die meisten blinden Menschen kann sie Licht und Schatten unterscheiden. Im Schein einer großen Schreibtischlampe übt sie die Zahlen von 1 bis 5. Ihre Hände befühlen die mit Punktschrift bedruckten Plastikquadrate und ordnen sie geschickt der Reihe nach an.