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„Sie wissen nicht, wohin“

FLUCHT Armee kündigte weitere Angriffe an

Die Palästinenser empfinden die Bombardierungen als Kollektivstrafe

JERUSALEM taz | In der Nacht zu Dienstag hatte die israelische Luftwaffe erneut Flugblätter abgeworfen. Darauf forderte sie die Bevölkerung in der Kleinstadt Jabalya, im Norden des Gazastreifens, und in mehreren Wohnvierteln der Stadt Gaza dazu auf, ihre Wohnungen zu verlassen.

Inzwischen haben 180.000 Palästinenser in UN-Schulen Schutz gesucht. „Wir rechnen mit Zigtausenden mehr“, sagte Christopher Gunness, Sprecher der UNRWA (UN-Hilfe für palästinensische Flüchtlinge), der taz am Mittwoch. 83 der insgesamt 92 UN-Schulen seien bereits komplett ausgelastet.

Frisches Wasser, Nahrungsmittel und Waschzeug seien derzeit ausreichend vorhanden, sagte Gunness. Um die Flüchtlinge auch mit Matratzen und Decken versorgen zu können, lancierte die UNRWA eine Spendenaktion. „150 Dollar für eine Familie“, so heißt es in der Kampagne.

Die Zeit drängt. Schon am frühen Dienstagnachmittag verteilte die Armee – diesmal im Zentrum von Khan Junis, ganz im Süden des Gazastreifens – neue Warnungen vor bevorstehenden Angriffen.

700.000 ohne Strom

„Die Leute wissen nicht, wohin sie fliehen sollen“, sagt Chalid Sahin vom Palästinensischen Menschenrechtszentrum in Gaza. Am Morgen haben Panzerkanonen einen Öltank des Elektrizitätswerks getroffen: „700.000 Menschen sind ohne Strom.“

Nach offizieller Prognose werde es ein ganzes Jahr dauern, bis das Werk repariert ist. Sahin berichtet von „haushohen Flammen“ und „schwarzen Rauchwolken“. Auch die Bäckereien arbeiteten seit dem Morgen nicht mehr wegen des Stromausfalls. Das Schlimmste sei jedoch die permanente Angst. „Es ist die Hölle, in weniger als fünf Stunden sind 35 Menschen gestorben.“ Überall lauerten Drohnen und Panzer, „sie schießen aus allen Richtungen“. Sahin spricht wie viele im Gazastreifen von einem Massaker. „Solche Bombardierungen hatten wir noch nie.“

Sogar die „Nagba“, die Vertreibung der Palästinenser aus ihren Heimatorten im heutigen Israel, sei, wie ihm seine Mutter berichtete, nicht so schrecklich gewesen wie diese Tage. Dreimal ist der Menschenrechtsaktivist selbst vertrieben worden. „Ich bin mit meiner Frau und den drei Kindern jetzt wieder zu Hause“, sagt er. Man sei ohnehin nirgendwo sicher im Gazastreifen.

Die Palästinenser empfinden die Bombardierungen als Kollektivstrafe. Sahin spricht von einer „Kultur der Einschüchterung“ und der gezielten Verbreitung von Angst und Panik. Die Leute fragten sich, womit sie die Angriffe verdient hätten.

SUSANNE KNAUL

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