„Die Stasi war nur Dienstleister der SED“


INTERVIEW WOLFGANG GAST
UND DANIEL SCHULZ

taz: Frau Birthler, der heftige Streit um die Regelanfrage hat die Novelle des Stasiunterlagengesetzes vorerst zu Fall gebracht. Heute stehen sich CDU und SPD unversöhnlich gegenüber. Erstere wollen eine Verlängerung der Regelanfrage für fünf Jahre, die Sozialdemokraten möchten nur noch einen bestimmten Personenkreis überprüfen, wie es auch im Gesetz steht. Was hätten Sie denn gern?

Marianne Birthler: Ich bedauere, dass die Fronten derzeit so verhärtet sind, das gibt das Thema eigentlich nicht her. Meine Behörde hat die Gesetzesnovelle mit entworfen, und ich halte die darin enthaltenen Regelungen nach wie vor für brauchbar. Zwar ist es auch denkbar, die Überprüfungsregelung zu verlängern. Aber ich erinnere daran, dass der Bundestag 1991 nicht ohne Grund die Überprüfung von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes zeitlich begrenzt hat. In einem Rechtsstaat sollte niemandem ein Fehlverhalten ein Leben lang vorgehalten werden. Dieser Meinung waren damals auch die meisten Abgeordneten, einigen waren selbst die 15 Jahre zu lang. Aus den Reihen der FDP wurde dieser Zeitraum sogar als grausam und unbarmherzig lang bezeichnet.

Sie scheinen der Regelanfrage keine große Bedeutung beizumessen. Haben Sie ihre Wichtigkeit unterschätzt?

Die Überprüfungen hatten und haben eine sehr wichtige Funktion als entscheidender Beitrag zur personellen Erneuerung in Politik und Verwaltung. Eine zentrale Bedeutung für die Aufarbeitung der Stasimachenschaften haben sie heute aber nicht mehr. Das war bis vor wenigen Monaten auch noch allgemeiner Konsens. Zu Beginn des Jahres hat niemand im Bundestag an eine Verlängerung gedacht, alle gingen davon aus, dass die Überprüfungen auslaufen. Ich habe dann im Rahmen der ohnehin laufenden Novellierungsdebatte im Februar vorgeschlagen, mit einer Nachfolgeregelung Überprüfungen für Personenkreise in herausgehobenen Funktionen auch weiterhin zu ermöglichen, zum Beispiel für Richter, Politiker oder Behördenleiter. Den daraufhin entwickelten ersten Entwurf einer Regelung hielten die Fraktionen überwiegend für eine vernünftige Lösung, und so steht es heute auch im Gesetzentwurf. Sie können daran auch sehen, dass der Vorwurf, die Novelle sei im Schnellverfahren entwickelt worden, nicht stimmt. Die Zeit von Februar bis November hat für einen praktikablen Entwurf gereicht, im Beirat der Behörde ist darüber ausführlich beraten worden.

Das mag sein. Aber in einer Zeit, in der Stasioffiziere stärker als zuvor an die Öffentlichkeit gehen und versuchen, ihre Verbrechen zu verniedlichen, ist das Ende der Regelanfrage doch das falsche Zeichen, oder?

Das neue Gesetz zieht keinen Schlussstrich unter die Stasiaufarbeitung. Im Gegenteil, es verbessert den Aktenzugang für die zeitgeschichtliche Forschung. Damit können die Mechanismen der Diktatur besser denn je mit Hilfe der Stasiunterlagen offen gelegt und so manche Geschichtsklitterung widerlegt werden. Die Überprüfungsmöglichkeiten werden dagegen immer weniger in Anspruch genommen.

Liegt das nicht eher an ihrer inkonsequenten Anwendung? Länder wie Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg haben die Regelanfrage inzwischen ganz abgeschafft.

Ja. Das geltende Gesetz ermöglicht die Überprüfungen eben nur und schreibt sie nicht vor. Vor allem aber ließ es in anderen wichtigen Bereichen der Gesellschaft Überprüfungen nie zu, zum Beispiel in der Wirtschaft. Nur ein Beispiel: Von den 6.000 Mitarbeitern der DDR-Staatsbank, welche die Deutsche Bank übernommen hat, ist nicht ein einziger überprüft worden. Die Aufsehen erregenden Fälle der letzten Jahre sind viel öfter durch Forschung und Medien bekannt geworden als durch Überprüfungen. Das wird auch weiterhin möglich sein, denn das neue Gesetz erleichtert Forschern und Journalisten den Zugang zu den Unterlagen und verbessert damit gegenüber der bisherigen Regelung die Bedingungen für die Aufarbeitung der Verbrechen des DDR-Geheimdienstes. Wichtig in diesem Zusammenhang: Bisher durften wir Unterlagen nur für Forschungsprojekte herausgeben, bei denen es um die Tätigkeit des MfS ging. Diese Zweckbindung wird nun auf die Erforschung der Machtstrukturen der DDR und der SBZ erweitert. Forscher können künftig also, soweit das in den Unterlagen des MfS abgebildet ist, besser nachzuvollziehen, welche Rolle die SED spielte, die ja schließlich Auftraggeber des MfS war. Dies ist wichtig, damit der Fokus nicht einseitig auf die Inoffiziellen Mitarbeiter gerichtet ist. Für manch einen bedeutet Aufarbeitung der DDR nichts als Enttarnung von Inoffiziellen Mitarbeitern. Das ist eine verkürzte Sicht.

Das ist ein seltsamer Vorwurf von der Chefin der Stasiunterlagenbehörde.

Wieso? Ich habe nicht nur einmal betont, dass die Aufarbeitung der MfS-Tätigkeit nicht den Blick auf Partei, Justiz und Staat verdecken darf. Denn dadurch entsteht leicht neues Unrecht.

Inwiefern?

Es ist ein fatales Ungleichgewicht, wenn nur IMs der Stasi als Täter gesehen werden. Was ist mit dem Unrecht, das andere Sicherheitsorgane in der DDR verübt haben – die Polizei, die Justiz? Und was ist mit der Rolle der Staatspartei? Es ist schwer nachvollziehbar, dass ein ehemaliger Pförtner des Ministeriums für Staatssicherheit heute Schwierigkeiten hat, einen Job zu finden, während ein hoher SED-Kader völlig unbehelligt durchs Berufsleben spaziert. Die Stasi war letztlich nur der Dienstleister der SED, das wird in der breiteren Öffentlichkeit oft ignoriert.

Wird dieser Fokus nicht so lange bestehen bleiben, wie es Ihre Behörde gibt?

Ohne die Staatssicherheit wäre die DDR nicht denkbar gewesen. Außen gab es die Mauer, damit niemand wegläuft, und innen die Stasi, die die Menschen das Fürchten lehrte. Anders hätte dieser Staat keine zwanzig Jahre durchgehalten. Das MfS hatte eine Schlüsselfunktion, und das rechtfertigt eine eigene Einrichtung, welche sich mit dem Geheimdienst befasst. Natürlich ist die DDR viel mehr als Stasi – aber ohne das MfS können Sie die DDR nicht verstehen.

Dennoch war Ihre Behörde immer als Einrichtung auf Zeit gedacht. Dadurch, dass die Novelle eine breitere Erforschung der Akten ermöglicht, haben Sie doch Ihrer Behörde zu einem längeren Bestehen verholfen, oder?

Ob Sie es glauben oder nicht, mir war am Gesetzentwurf wichtig, was er für die Aufarbeitung bringt, und nicht, ob er die Behörde stärkt.

Sie leiten eine Einrichtung mit knapp 2.000 Mitarbeitern. Und keine Behörde schafft sich gern selbst ab, oder?

Stimmt, vor allem, wenn sie noch gebraucht wird. Institutionelle Veränderungen sieht das Gesetz deshalb nicht vor. Das liegt daran, dass in Fachwelt und Politik die Meinung überwiegt, dass es eine gesonderte gesetzliche Regelung für die Stasiunterlagen und damit eine gesonderte Behörde noch auf längere Zeit braucht. Aber in gewisser Weise kommt uns in der Behörde die Novelle natürlich zugute: Die sehr restriktiven Zugangsregelungen für Forscher, die durch das Gesetz und die Rechtsprechung bedingt sind, werden nicht selten uns angelastet. Verbesserungen auf diesem Gebiet kommen also auch uns zugute.

Es gibt auch noch eine andere Lesart. Dadurch, dass externe Forscher mehr Rechte bekommen, wird das Staatsmonopol auf die DDR-Forschung aufgebrochen.

Da die Behörde nach dem Gesetz unabhängig ist, haben Staat oder Parteien keinen Zugriff auf die Forschung unserer Behörde. Die Berechtigung der Behördenforschung liegt vor allem in der Schutzwürdigkeit der Informationen: Wenn es die BStU mit ihrer Forschungsabteilung nicht gäbe, würden hohe rechtliche Hürden das Arbeiten mit einem großen Teil der Akten ganz verhindern. Außerdem ist so die Grundlagenforschung gesichert, von der andere Forschungsbereiche profitieren. Wer sollte diese Aufgabe denn sonst übernehmen?

Beispielsweise die deutschen Universitäten.

Die meisten Universitäten sind doch auch staatlich. Der Vorwurf „Staatsmonopol“ unterstellt, dass die Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen nicht unabhängig genug sei. Aber das kann niemand ernsthaft behaupten. Sowohl mein Vorgänger als auch ich haben die Unabhängigkeit unserer Arbeit immer verteidigt. Manch einem passt das nicht. Einige Politiker fordern immer wieder den staatliche Eingriff und meinen, die Behörde müsse besser kontrolliert werden.

Auch wenn es derzeit nicht diskutiert wird, wie lange muss es die Stasiunterlagenbehörde noch geben?

Einschätzungen in dieser Frage haben sich immer wieder verändert. Früher dachte man, nach zehn Jahren sei der Auftrag der Stasiunterlagenbehörde erledigt. Die Nachfrage zum Beispiel nach persönlicher Akteneinsicht ist aber ungebrochen und nimmt derzeit sogar wieder zu. Wir bearbeiten in diesem Jahr 88.000 Anträge. Aus heutiger Sicht spricht vieles dafür, dass diese Behörde noch mindestens zehn bis fünfzehn Jahre gebraucht wird. Eine Aufteilung ihrer Funktionen derart, dass die Akten ins Bundesarchiv kommen, die Forschung an die Universitäten gegeben wird und die historisch-politische Bildungsarbeit an andere Einrichtungen, würde die erfolgreiche interdisziplinäre Arbeit dieser Behörde unmöglich machen. Jugendliche, die zu uns kommen, arbeiten mit Archivalien, sie kommen nicht nur mit Pädagogen, sondern auch mit Archivaren und Wissenschaftlern zusammen. Dieser moderne integrierte Ansatz ist sehr erfolgreich. Alle anderen Vorstellungen kommen doch irgendwie aus den 60er-Jahren.

CDU und SPD müssten sich bis zum Ende dieses Monats einigen, sonst läuft das Unterlagengesetz einfach aus. Was passiert, wenn die Novelle endgültig scheitert?

Das wäre bitter. Wir brauchen eine Lösung, und ich sehe auch noch Raum für Kompromisse, mit denen Skeptiker eingebunden werden könnten. Ich hoffe sehr, dass die Debatte um das Stasiunterlagengesetz nicht auf das Thema Überprüfungen verengt wird.

Und wenn es keine Einigung gibt?

Dann laufen die gesetzlichen Regelungen für Überprüfungen ersatzlos aus. Das wäre, mal abgesehen von der üblichen Minderheit der Aufarbeitungsverweigerer, in niemandes Sinne.