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Archiv-Artikel

Auch vier Jahre nach der Tat ist vieles ungeklärt

Das Massaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium vom April 2002 weist beträchtliche Parallelen zu dem Fall in Emsdetten auf

DRESDEN taz ■ Der Amoklauf von Emsdetten weist auf den ersten Blick einige Parallelen zu dem Massaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium vom April 2002 auf. Aufgestaute Aggressionen des fast gleichaltrigen Robert Steinhäuser hatten zu einem wohlüberlegten Racheakt für den Schulausschluss im Jahr zuvor geführt. Auch Steinhäuser flüchtete zuvor in die virtuelle Realität der Computerspiele, insbesondere des aggressiven „Counterstrike“.

Das Erfurter Schulgebäude mit allen Spuren des Attentats wurde zunächst mit einem Aufwand von 10 Millionen Euro generalsaniert. Doch die seelischen Verwundungen waren auch beim Wiedereinzug im Vorjahr noch nicht verheilt. 33 Schüler und 9 Lehrer befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch immer in psychologischer Behandlung. Die Traumatherapeutin Allina Wilms warnte damals davor, dass die Rückkehr neue Ängste freisetzen könnte. Schüler und Lehrerkollegium machten dafür teilweise aber auch das Medieninteresse verantwortlich. Der Wunsch nach Ruhe war nach den Worten von Schulleiterin Christiane Alt besonders ausgeprägt.

An Bewältigungs- und Aufarbeitungsversuchen fehlte es in Erfurt nach dem Attentat nicht. Zum Jahrestag versammelte sich eine große Menschenmenge auf dem Domplatz, Schüler gestalteten Ausstellungen, 2004 produzierte die ARD einen Dokumentarfilm. Die Thüringer Landesregierung setzte eine Untersuchungskommission ein. Schulleiterin Alt musste noch mitten in der Schockphase drei Tage nach dem Massaker eine Missbilligung des damaligen Kultusministers Michael Krapp einstecken: Der Schulverweis des späteren Täters sei ungerechtfertig gewesen.

Thüringen schuf daraufhin auch für gescheiterte Schüler der gymnasialen Oberstufe die bis dahin nicht bestehende Möglichkeit, einen Realschulabschluss zu erwerben. Die Gutenberg-Schüler-Initiative „Schrei nach Veränderung“, die sich für ein besseres Schulklima in Thüringen einsetzte, gibt es inzwischen nicht mehr. Fehler im damaligen Krisenmanagement sollten durch inzwischen bundesweit präzisierte Handlungsanweisungen an die Polizei vermieden werden. In der Presse wird aber nach wie vor kritisiert, dass das mangelhafte Zusammenspiel von Landes- und Kommunalbehörden nicht beseitigt sei. Rettungsdienst und Katastrophenschutz sind in Thüringen eine Angelegenheit der Städte und Kreise. Auch mit dem Abschlussbericht der Kommission ist bis heute nicht eindeutig geklärt, wie Robert Steinhäuser an eine Pumpgun gelangen und warum er seine Schießübungen so ungehindert ausführen konnte. Die Szene der Schützenvereine und mögliche Verquickungen mit dem früheren Staatssicherheitsdienst blendet der Bericht aus.

Eine Änderung des Waffenrechts, für die sich viele Bundespolitiker nach dem Attentat ausgesprochen hatten, fiel zaghaft aus. Sportschützen dürfen weiter ab 18 Jahren Kleinkaliberwaffen bis zu 5,6 mm erwerben. Die Schule wird dabei nicht nach einer etwaigen Auffälligkeit des Schülers gefragt. Michael Bartsch