: Keusch sein und trinken
VIETNAM Eine Art Ländergeschichte der letzten 20 Jahre: „Vivre avec les vietnamiens“ beschreibt vietnamesischen Alltag, ohne zu romantisieren
Dieses Buch entstand aus dem Wunsch, endlich mit abgedroschenen Stereotypen über Vietnam aufzuräumen. Alle Vietnamesen fahren Fahrrad? Falsch, sie fahren mit dem Motorrad. Vietnamesische Frauen leben keusch bis zur Ehe? Ein Irrtum! Vietnamesen lieben Schlangenschnaps? Stimmt nicht, sie lieben Bier, und Schlangenschnaps ist lediglich ein beliebtes Touristensouvenir.
In „Vivre avec les vietnamiens“ zeigen die Autoren Philippe Papin und Laurent Passicousset Innenansichten einer vielseitigen Kultur und scheinbar unübersichtlichen politischen Landschaft. Seit seiner Öffnung ist das südostasiatische Land vor allem bei Backpackern beliebt: Internet und Mobilfunk funktionieren fast flächendeckend, reisen ist billig und problemlos. Aber für die Einheimischen gibt es bis heute keine Meinungsfreiheit, bis heute hält die allmächtige Partei die Gesellschaft noch immer unter strikter Kontrolle. Die Autoren sind Kenner des Landes. Der Historiker Philippe Papin unterrichtete in Hanoi, heute forscht er in Paris über Vietnam. Laurent Passicousset war langjähriger Vietnam-Korrespondent.
Gemeinsam holen sie das nach, was die deutschsprachigen Autoren bisher sträflich versäumten: sich nicht nur mit der Geschichte des Landes, sondern auch mit der Mentalität der Vietnamesen zu befassen. Landwirte, Ärzte, Beamte, Geschäftsleute, Intellektuelle, religiöse Frauen, Männer vom Militär, Blogger, Dissidenten oder Mitglieder der Partei schildern ihre Sichtweisen auf das kommunistische System und erlauben Momentaufnahmen des heutigen Vietnams. Gerade diese persönlichen Geschichten machen das Werk so lebendig. Die Gefahr, in oberflächlichem Südostasiengesäusel zu versinken, können die beiden durch akribische Recherchen vermeiden. Die Autoren hüten sich vor romantischer Stäbchenidealisierung, betonen immer wieder die teilweise sehr dürftigen Verhältnisse, unter denen die Vietnamesen ihren Alltag bestreiten müssen. So werden das miserable Gesundheits- und Schulsystem ausführlich beleuchtet und anhand von Einzelbiografien gezeigt, was es in Vietnam bedeutet, zur Unterschicht zu gehören.
Philippe Papin und Laurent Passicousset haben ein herausragendes Buch geschrieben. Die 14 Kapitel bestechen durch umfassende Quellenkenntnisse, scharfsinnige Analysen und einen lebendigen Schreibstil.CIGDEM AKYOL
■ Philippe Papin, Laurent Passicousset: „Vivre avec les vietnamiens“. Verlag L’Archipel, Paris 2010, 373 Seiten, 23 Euro