: Das Denkmal in Odessa ist weg
UKRAINE Prorussische Regierungsgegner setzen ihre Mahnwache für die Toten vor dem ausgebrannten Gewerkschaftsgebäude in Odessa fort. Bislang wurde niemand verurteilt
REGIERUNGSGEGNER STANISLAW
AUS ODESSA BERNHARD CLASEN
Leer ist es geworden auf den Platz vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa, dem Kulikowo Polje. Noch vor wenigen Wochen hatte hier, gerade einmal 200 Meter vom Hauptbahnhof entfernt, eine Mahnwache mit zahlreichen Kreuzen, Ikonen und Stellwänden an die Bewohner der ukrainischen Hafenstadt am Schwarzen Meer erinnert, die bei dem Brand des Gewerkschaftshauses am 2. Mai ihr Leben verloren hatten.
Schon lange war diese Mahnwache der prorussischen Gegner der Kiewer Regierung mit ihrem liebevoll aufgebauten provisorischen Denkmal den Behörden von Odessa ein Dorn im Auge gewesen. Aber es dürften nicht nur die Fotos der am 2. Mai Umgekommenen gewesen sein, die die Emotionen hatten hochkochen lassen. Auch der Aufruf zur Erschießung führender Regierungsvertreter in der Hauptstadt Kiew direkt neben den Gedenktafeln hatte für Empörung gesorgt.
Vor zehn Tagen hatten die Behörden von Odessa in einer Nacht-und-Nebel-Aktion um drei Uhr morgens die Gedenkstätte mit ihren Stellwänden und Blumen räumen lassen, berichtet Viktoria, eine Teilnehmerin an der Dauermahnwache, der taz. Die 45-Jährige ist seit dem 3. Mai jeden Tag auf dem Kulikowo Polje. Jetzt bleibt ihr nur noch, sich um die Blumen zu kümmern, die jeden Tag von Passanten vorbeigebracht werden. Zweimal täglich schneidet sie die Stile der Pflanzen an, kehrt die Fläche vor den Blumen, und sammelt Geld für die Angehörigen der Toten.
Auch heute noch, drei Monate später, sind die Ereignisse des 2. Mai das zentrale Thema aller politischen Gespräche in Odessa. 1.500 Anhänger des Maidan und 300 Antimaidanaktivisten waren am 2. Mai in Odessa für ihre politischen Forderungen auf die Straße gegangen. Irgendwann am Nachmittag hatte sich dann eine Gruppe von Antimaidanaktivisten zu der Maidandemonstration durchgekämpft. Bei den anschließenden tätlichen Auseinandersetzungen kamen drei Maidanaktivisten ums Leben. Wenig später wurden drei prorussische Antimaidandemonstranten durch Schüsse getötet. Doch dies war erst der Auftakt der blutigen Gewalt.
„Die eigentlich Tragödie spielte sich jedoch am Abend ab“, berichtet Stanislaw, einer der wenigen, die dem brennenden Gewerkschaftshaus lebend entrinnen konnten. Vertreter der „Selbstverteidigung Odessa“, des Antimaidan und prorussischer Gruppen hätten mit russischen Fahnen, St.-Georgs-Bändchen und Ikonen auf dem Platz gestanden.
Irina, die neben Stanislaw auf einer kleinen Holzbank vor dem Gewerkschaftshaus sitzt, hat am 2. Mai ihren Mann verloren. Seitdem kommt sie jeden Tag zum Kulikowo Polje. „Damals sind plötzlich von links und rechts Leute mit Helmen, Baseballschlägern, ja sogar mit Schusswaffen bewaffnet, auf uns zugestürmt. Wir vor dem Gewerkschaftshaus saßen in einer Falle, wir konnten nicht mehr nach links oder rechts ausweichen. Und so sind wir alle in das Gebäude geflohen, wo wir uns in den Büros verschanzt haben.“
Doch wenig später, so berichtet Irina weiter, seien von draußen aus der Richtung der vermummten Gegner vor dem Gebäude Granaten, darunter auch Phosphorgranaten und Gasgranaten, wie sie beteuert, auf das Gebäude geschleudert worden. „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen: Die vermummten Demonstranten schossen auf alle, die sich mit einem Sprung aus dem Fenster hatten retten können.“ Als Beweis zeigt Stanislaw, der neben Irina steht, seine inzwischen schon verheilte Schusswunde am Unterschenkel.
Stanislaw ist felsenfest davon überzeugt, dass mehr als 53 Personen, wie es offiziell heißt, am 2. Mai und in den Tagen danach ums Leben gekommen sind. „Mir wurde von schwarzem Rauch berichtet, der den gesamten 4. Mai über aus dem Krematorium von Odessa aufgestiegen ist. Viele sind seit dem 2. Mai spurlos verschwunden. Wer nach dem 2. Mai seinen Verletzungen erlegen ist, erschien nicht mehr in der Statistik“, sagt er.
Noch immer ist niemand wegen der Toten jenes Tages in Odessa verurteilt worden. Doch das Thema „2. Mai“ gärt in der Bevölkerung weiter. „Wir haben 4.000 Menschen, mit denen wir jederzeit rechnen können“, sagt Stanislaw über seine prorussischen Gesinnungsgenossen.
„Im Jahre 1380 haben russische Truppen hier auf dem Kulikowo Polje die Mongolen vernichtend geschlagen. Und irgendwann werden wir uns genau hier für den 2. Mai rächen“, meint Nikolai, der noch vor zwei Wochen im Donbass auf der Seite der Aufständischen gegen die ukrainische Armee gekämpft hat.