Der Anarchist

Wenn Flüchtlinge in Not sind, spielt die Religion keine Rolle“, sagt Wolfgang Seibert, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Pinneberg. Seibert, 66, bekannt für seinen Einsatz für Humanität, engagiert sich über mancherlei Grenzen hinweg für mehr Gerechtigkeit. Nun ist er in den Schlagzeilen, weil er einem muslimischen Sudanesen, der abgeschoben werden sollte, Asyl im jüdischen Gemeindehaus gewährt hat.

Ein Jude nimmt einen Moslem auf – das finden einige sensationell. Aber Seibert meint nur, er habe nach seinem Gefühl gehandelt. Ziviler Ungehorsam ist ein Teil seiner Mentalität.

Bis in die 1970er-Jahre sei er ein aktiver Linker, gewesen, sagt Seibert. Doch dann veränderte sich die politische Lage, unabhängiges politisches Denken wurde schwieriger: „Es kamen Gurus, die einem vorschrieben, was man denken soll.“ Das und die zunehmende Anti-Israel-Einstellung in den 1970ern verleidete ihm die Politik. Unpolitisch wurde er deswegen aber noch lange nicht.

Seibert wuchs bei seinen Großeltern auf, beides Juden, die Auschwitz überlebt hatten. Sie sprachen nie darüber, erfahren hat er davon erst, als er 16 Jahre alt war. Und auch das wohl eher aus Zufall: Seiner Großmutter rutschte die Bluse hoch und er sah die eintätowierte Nummer.

Seibert wurde von den Großeltern jüdisch erzogen, aber es wurde wenig Wert auf Formalien gelegt. Er sagt, dass sein Großvater ein Anarchist gewesen sei und er dankbar sei, das von ihm geerbt zu haben. „Kein Mensch hat das Recht über einen anderen zu herrschen“, so Seibert. Jüdisch-Sein bedeutet für ihn nicht, sich in die Religion zurückzuziehen, sondern es impliziere Handeln und Aufstehen gegen Ungerechtigkeit. KEILA ECKERLEBEN SCHMITZ