: Zustimmung zum eigenen Ausschluss
Zu viele lose Enden: Mit „Who by fire“ forscht Christoph Winkler in den Sophiensælen zur Figur des Sündenbocks
Der Sündenbock ist der, auf den alle mit dem Finger zeigen. Das zu erraten, gehört zu den leichteren Übungen bei der Betrachtung der Performance „Who by fire“, die der Choreograf Christoph Winkler mit Tänzern und Schauspielern in den Sophiensælen erarbeitet hat. Vieles in dem Stück wird sprachlich verhandelt, wie die Fragen danach, woher die Sünde kommt – und woher die Wünsche. Oft glaubt man sich dabei auf einem Konfirmanden-Seminar, von dem mit viel Witz erzählt wird.
Schwer fällt allerdings eine Antwort auf die Frage, welche Rollen denn Tanz und choreografische Form in dieser Performance spielen – denn immerhin sind sechs der acht Akteure Tänzer, keine Schauspieler, und im Reden doch etwas blass. Sie tanzen zwar auch, aber doch eher so jeder für sich, wie in einem „Express yourself“-Workshop. Damit bleiben sie hinter den Erwartungen zurück, die man an den Choreografen Christoph Winkler stellt.
Ein Text im Programmheft bietet, wie bei Winkler üblich, einen theoretischen Abriss, diesmal über die Geschichte des Sündenbocks: Es geht darum, wie Kollektive sich von Schuld reinwaschen, indem sie ein Opfer wählen. Weil dem Kollektiv der Tänzer und Schauspieler aber die Begriffe Schuld und Sünde suspekt erscheinen – „kommt das von den Amerikanern oder den Katholiken?“, mutmaßen sie –, untersuchen sie die Rollen des Einzelnen im Hinblick auf seine Förderlichkeit für die Gruppe. „Tja, Florian, du hast so viel Energie, die trägt dich auch über diesen Raum hinaus.“ Das Lob des Spielleiters ist zweischneidig; es fordert Zustimmung ein, auch dort, wo der eigene Ausschluss verhandelt wird. An dieser Ebene, einer sanften Karikatur von eigentlich sehr harten sozialen Prozessen, hat das Publikum in den Sophiensælen besonders seine Freude.
Wie Spiele sind die Szenen aufgebaut: In einer Runde gestaltet sich das wie eine imaginäre Reise in die Wüste. Wüste deshalb, weil dahin ja die Sündenböcke getrieben wurden, wie schon vor Beginn des Stück erzählt wird. Der Schauspieler Peter Trabner spielt den Akteuren dabei die Stichworte zu und agiert mit einer Sprache, die sowohl im Kontext des Modern Dance wie im Selbstbestimmungstraining vertraut klingt: „Nimm dir deinen Raum, finde deinen Ort.“ Dann aber kippt das Spiel, die Wüste wird zu militärisch umkämpftem Gelände, die Assoziationen driften zum Kriegsschauplatz Nahost, Gräben werden im Sand gezogen und Panik verbreitet. „Passkontrolle“, brüllt Trabner und gleich darauf wieder im Ton des Therapeuten „da könnt ihr sehen, wer ihr seid.“ Dass einfache Bilder sich so unterschiedlich besetzen lassen, gehört zu den verblüffendsten Erkenntnissen des Abends.
Auch das Auserwähltwerden ist stets eine zweischneidige Sache, Aussonderung und Verehrung liegen nah beieinander. Im Spiel changiert die Szene, in der die Tänzerin Anna-Luise Recke ob ihrer „Besonderheit“ ausgewählt wird, zwischen Grablegung und Gratulation. Zwischen diesen Spielszenen wird gesungen, gerappt, werden Moves aus dem Hiphop angedeutet; aber während der Tänzer Howard Katz als einziger in diesem Gebiet zu Hause ist, wirkt es bei seinen Kollegen mehr so wie ein Gruß hinüber in eine andere Kultur der Gruppenbildung.
Am Ende singt Howard Katz den Song, dem das Stück seinen Titel entlehnt hat: „Who by fire“ von Leonhard Cohen. Der könnte noch einmal weiter weg führen zu Fragen, wer über den Tod entscheidet und wer den Menschen aus dem Leben abberuft. Aber bevor es dazu kommt, wird es dunkel über den Liedzeilen, die wie so viele lose Enden des Stücks mehr nur in eine Richtung deuten, statt in diese Richtung zu gehen.
KATRIN BETTINA MÜLLER
Wieder vom 30. 11. bis 3. 12., 20 Uhr, Sophiensæle, Sophienstr. 18