BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Wir bleiben in Kontakt

In der DDR haben wir das Lesen zwischen den Zeilen gelernt. Beim Lesen von Inseraten zahlt sich das nun aus

Mit den Kontakten, das war so eine Sache damals. Viele Kontakte waren verboten: mit Bürgern aus dem nichtsozialistischen Ausland, mit Vertragsarbeitern aus Kuba, Mosambik und Angola, mit dem Nachbarn, der einen Ausreiseantrag gestellt hat. Andere Kontakte waren geradezu erwünscht. Leider aber von Personen, die man sich lieber vom Hals hielt. Für den Rest waren die Kontaktbereichsbeamten zuständig. Wahrscheinlich liegt es an den vielen Kontaktsperren, dass ich so ein kontaktfreudiger Mensch geworden bin.

Oder Anzeigen: Jahrelang waren Anzeigen für mich ausschließlich etwas Negatives. Böse Menschen erstatteten bei der bösen Polizei Anzeige, weil ein Mitbürger gegen ein sozialistisches Gebot verstoßen hatte. Dass Männer und Frauen auch Anzeigen aufgeben, um Frauen und Männer zu finden, die nichts verbrochen hatten, habe ich erst im Westen wahrgenommen. Kontaktanzeigen helfen mir, meine Brüder und Schwestern im Westen noch besser zu verstehen. Die Texte geben tiefe Einblicke – auch in Abgründe, in die ich gar nicht blicken möchte.

Nehmen wir die Wochenzeitschrift Die Zeit. Ein anspruchsvolles Blatt mit anspruchsvollen Lesern. Nur die Inserate sind es nicht unbedingt. Da suchen Männer Frauen mit tiefen, nein, nicht Ausschnitten, sondern „mit tiefen Empfindungen und schwindelfreien Gedanken“ oder „die Traumfrau“. Ein 25-jähriger Beamter „mit wenig Freizeit und während dieser auch noch mit Hang z. Müßiggang gesegnet“ sucht „eine attraktive Frau aus geordneten Verhältnissen“ für „gelegentliche Zweisamkeit u. fin. Zuwendung meinerseits“.

Bei den Frauen sieht es nicht viel anders aus. Sie suchen die „Schulter zum Anlehnen“ oder gleich den „Mann zum Anlehnen“ bis hin zum „Herzenswärmer“. Dafür sind sie bereit, so einiges von sich preiszugeben. „Feminine Humanistin aus Berlin, bodenständige Kosmopolitin, Raucherin im Vorruhestand, Liebe die Tropen!“ Zwölf Worte und jeder Mann, der halbwegs bei Verstand ist, weiß, woran er ist. Den ganzen Tag mit einer Rentnerin quatschen, schwitzen und rauchen.

Eine andere Frau deutet ihr Alter immerhin an. Sie schreibt: „geschätztes Alter 44“. Hallo? Hat sie eine Schätzungsurkunde? Beim Rest wird sie konkreter: „Fährst du gern einmal nach Paris, einfach so nur zum Spaß? Isst du gern mit den Fingern, liegst du gern mal im Gras? Liebst du tiefsinnige Gespräche und glaubst an Gott? Wanderst, tanzt und segelst du gern – aber alles nicht so verbissen?“ Alles nicht so verbissen? Die Frau wandert, tanzt und segelt so verbissen, dass man ihr Alter nur schätzen kann.

Das Lesen zwischen den Zeilen haben wir im Osten zum Glück ja gelernt. Aber anscheinend habe ich nicht genug aufgepasst. Warum schreibt ein 78-jähriger Herr in der Überschrift „Verw. Unternehmer“ und dann im Text, dass „als verw. Nichtraucher das Alleinsein nicht das ist“, was er sich vom Leben wünscht? Verwitweter Unternehmer, okay, aber verwitweter Nichtraucher? Warum nicht nichtrauchender Witwer? Oder ist er zweifacher Witwer? Wahrscheinlich trinkt er und ist ein Heiratsschwindler.

Nicht nur in Kontaktanzeigen kann man sich ein Bild von seinen Mitmenschen machen. Auch in Gästebüchern. Als ich im Gästebuch des Hauses im Tessin blätterte, wo ich noch immer Schriftstellerin spiele, fand ich einen Eintrag, der besser ist als alle Kontaktanzeigen zusammen. Da schreibt eine Familie, die vor mir hier war: „Es hat uns sehr, sehr gut gefallen. Es ist alles super gemütlich, vor allem Kastanien essen vor dem Kamin, lesen in den Betten etc.“. Bis etwas Schreckliches passiert ist: „Leider hat das alles ein abruptes Ende gehabt, weil unser Kater zu Hause überfahren wurde und unsre Katze jetzt ganz alleine ist. Wir sind jetzt alle sehr traurig.“

Ohne pietätlos zu erscheinen, aber für die Familie gibt es nur eins: Erst sollten sie eine Anzeige gegen den Mörder ihrer Katze erstatten. Und dann eine Anzeige aufgeben: „Suchen für unsere verw. Katze niveauv., verständnisv. Kater, kastr., kein schwarzer Peter.“

Wir bleiben in Kontakt.

Fotohinweis: BARBARA BOLLWAHNROTKÄPPCHEN Chiffre 1aDDR89 kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN