Nonkonformistisch reaktionär

KRITIK Das Tagebuch des radikalen Misanthropen Paul Léautaud, den auch Walter Benjamin schätzte, hat es in sich

VON CHRISTIAN SEMLER

Früher beherrschte der Mythos der Résistance die Geschichte des besetzten Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. Die große Mehrheit der Franzosen sollen Feinde der Besatzer gewesen sein, nur eine kleine Minderheit habe mit den Deutschen kollaboriert. In dem Maße, in dem sich in den beiden letzten Jahrzehnten dieser Mythos aufgelöst hat, ist in der Geschichtsschreibung ein vielfältiges Bild französischer Verhaltensweisen gegenüber den deutschen Besetzern sichtbar geworden, das sich der Zweiteilung in Helden und Verräter entzieht.

Die Veröffentlichung des „Kriegstagebuchs 1939–1945“ von Paul Léautaud bereichert unsere Kenntnis des politischen wie moralischen Clair-obscur der Besatzungszeit. Es winkt eine muntere, anregende, allerdings streckenweise erschreckende Lektüre.

Paul Léautaud, geboren 1871, Kritiker, Essayist und Romancier, hat sein Leben lang, von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis zu seinem Tod 1955, Tagebuch geführt. Teilveröffentlichungen dieser Tagebücher haben schon zu Lebzeiten des Autors zu dessen Ruhm beigetragen. Léautaud schreibt in einem durchsichtig klaren Stil, verabscheut alle Phrasen. Sosehr er seine Landsleute verachtet, so sehr liebt er ihre Sprache, er ist Sprachpatriot. Und er exponiert sich mit überaus krassen Urteilen.

Zieht man das Resümee seiner politischen Anschauungen, wie sie in dem Kriegstagebuch zum Ausdruck kommen, so findet sich ein Konglomerat vollständig unvereinbarer Gegensätze. Léautaud begann als „Dreyfusard“, kämpfte also an der Seite von Zola für die Rehabilitierung des zu Unrecht als Spion verurteilten jüdisch-elsässischen Offiziers Dreyfus. Andererseits war er von geradezu wütendem Hass gegen den Plebs erfüllt, verabscheute die Demokratie, hielt die Marseillaise für einen Aufruf zum Gemetzel und trat für die Herrschaft einer aufgeklärten Elite ein. Die deutsche Besetzung sah er als Quittung für den Niedergang Frankreichs unter der Volksfrontregierung von 1936 an, für deren Sozialreformen er nur Hohn und Spott übrig hatte. Stimmte er hier mit der traditionellen französischen Rechten überein, so stieß er sie wiederum mit seiner These vor den Kopf, Frankreich geschehe jetzt nur das, was es zuvor den unschuldigen, von ihm kolonisierten Völkern angetan habe.

Léautaud ist radikaler Antimilitarist, ein Punkt, an dem ihm Ernst Jünger, sein deutscher Freund und Bewunderer, nicht folgen kann. Die Résistance hält Léautaud für töricht und unwirksam, vermeidet aber die Zusammenarbeit mit der Kulturbürokratie der deutschen Besatzungsmacht in Paris, die um ein offenes und pluralistisches Image bemüht ist. Er selbst hat keine Hemmungen, mit Erzfaschisten wie dem Schriftsteller Drieu la Rochelle zusammenzuarbeiten, und schätzt auch Louis-Ferdinand Céline, den durchgedrehten Judenhasser. Natürlich weil sie gute Schriftsteller sind. Als der deutsche Zusammenbruch naht, fürchtet er vor allem die Wiederkehr der ihm verhassten Politikerkaste, die das Schicksal der Dritten Republik bestimmt habe.

Léautaud ist verbittert über die Enteignung und Drangsalierung ihm bekannter französischer jüdischer Intellektueller. Er meint aber generell, die Juden hätten sich den Antisemitismus selbst zuzuschreiben, sie hätten sich – besonders in der Zeit der Volksfront – nach vorne gedrängt. Als der Judenstern obligatorisch wird, beklagt er den Selbstmord eines jüdischen Mädchens nur mit dem Hinweis, dass es stets die Unschuldigen treffe. Und schließlich sei jedes Gesetz des Staates per se Unrecht. Über die Deportation der Juden steht im Tagebuch nur ein beiläufiger Halbsatz.

Paul Léautaud: „Kriegstagebuch 1939–1945“. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Hanns Grössel. Berenberg Verlag, Berlin 2011, 192 Seiten, 20 Euro