: Ein ungehörter Zeuge
DOKUMENT Es ist die unfassbare Geschichte eines Zeugen der Schoah: Jan Karskis „Bericht an die Welt“ über seine Odyssee durch das Europa des Zweiten Weltkriegs
VON CHRISTIAN SEMLER
Die finstersten Jahre der deutschen Geschichte haben uns Misstrauen gelehrt gegen Heldenverehrung und brennende Vaterlandsliebe. Dennoch gibt es kein anderes Wort als heroisch, um das Leben und die Taten des Polen Jan Karski angemessen zu beschreiben.
Karski hat als Kurier des polnischen Untergrundes während des Zweiten Weltkriegs unter ständiger Lebensgefahr authentische Nachrichten über das Wüten der deutschen Besatzung gegen die polnische Bevölkerung nach London übermittelt. Er wurde Augenzeuge des Massensterbens der im Warschauer Ghetto eingepferchten Juden und des Mordes an ihnen im Konzentrationslager Izbica Lubelska. Die Politiker in Großbritannien und den USA, die er mit seinen Erfahrungen und Nachrichten konfrontierte, unternahmen so gut wie nichts, die deutsche Mordmaschine anzuhalten.
Im Jahr 1944 schrieb Jan Karski in den USA die Geschichte seines bisherigen Lebens nieder. Das Buch wurde in den angelsächsischen Ländern zu einem großen Erfolg, dann aber wurde es ebenso vergessen wie sein Autor. Jetzt, nach sechseinhalb Jahrzehnten, erscheint es unter dem Titel „Mein Bericht an die Welt“ in deutscher Sprache. Céline Gervais-Francelle hat zu dem Bericht ein instruktives Vorwort geschrieben. Vor allem aber wurde dem Werk ein vorzüglicher Anmerkungsapparat beigegefügt, der den nichtspezialisierten Leser überhaupt erst in die Lage versetzt, die Menschen, mit denen Karski zu tun hatte, und die Bedingungen seiner Arbeit im Untergrund zu verstehen.
Karski empfand das Scheitern seiner Mission, den Juden zu helfen, als bitterste Niederlage, ein Gefühl, dass ihn in seinem ganzen späteren Leben nie verließ. An der katholischen Universität Georgetown in Washington lehrte er osteuropäische Geschichte. Er schrieb ein vorzügliches Werk, in dem er das autoritäre polnische Regime in den dreißiger Jahren unter Josel Beck einer schonungslosen Analyse unterzog.
Aber mehr als 30 Jahre schwieg er über seine Arbeit im Untergrund des besetzten Polens und als Kurier zur polnischen Exilregierung. Dann, 1978, suchte ihn Claude Lanzmann auf und interviewte ihn für seine Filmreihe „Shoah“. Mit der Vorführung von „Shoah“ 1985 begann die öffentliche Erinnerung an Karski, begannen die Ehrungen, die bis zu seinem Tod anhielten.
Karskis „Bericht an die Welt“ ist zum einen eine äußerst spannend geschriebene Agentengeschichte. Wir erfahren, wie der Autor in den sowjetisch besetzten Teil Polens verschleppt wurde,von dort floh, in die Hände der Deutschen geriet und sich, von Kameraden aus dem halb geöffneten Fenster des fahrenden Zuges geworfen, rettete. Bei seiner zweiten Kurierfahrt zur Exilregierung wurde er von der Gestapo gefasst, schwer gefoltert und schließlich von einem Kommando des sozialistischen Untergrundes aus der Krankenstation befreit. Wir erfahren, mit welchen Tricks und Vorsichtsmaßnahmen Karski seine Spuren vor seinen deutschen Verfolgern verwischte. Und wie er erfahren musste, dass seine Freunde und Kampfgefährten von den Deutschen ermordet wurden.
Zum anderen schildert Karskis Bericht, wie der Untergrundstaat funktionierte, dessen Strukturen sich schon kurz nach Beginn der deutschen Besatzung herausbildeten. Sein militärischer Arm funktionierte nach den Regeln einer normalen Armee einschließlich der Ränge, Orden und Strafen. Der zivile Arm umfasste ein breites Spektrum von der Schul- und Universitätsausbildung bis zu sozialen und medizinischen Einrichtungen. Für Karski war es wichtig, gerade die Staatsqualität dieses Gebildes und das Funktionieren seiner zentralen Einrichtungen zu betonen. Denn der Untergrundstaat und die ihn tragende Parteienkoalition lieferten die Legitimation für die Exilregierung, die damals noch von den Alliierten anerkannt wurde.
Karski sah aus wie ein vornehmer polnischer Aristokrat. Er liebte Polen, militärische Disziplin war ihm selbstverständlich. Dass dieser polyglotte und überaus weltgewandte Gentleman im Untergrund eine starke Zuneigung gerade zum linken Widerstand aus der polnischen Arbeiterklasse empfand, zeigt seinen Mangel an Dünkel und seine Offenheit gegenüber der Erfahrung von Solidarität.
Die beiden Kapitel „das Ghetto“ und „letzte Etappe“ bieten eine erschütternde Lektüre. Um sich selbst ein Bild vom Schicksal der Juden zu machen, lässt sich Karski in Begleitung des Vorsitzenden des sozialistischen Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes (Bund) Leon Feiner ins Warschauer Ghetto einschleusen, wo bereits der Transport in die Vernichtungslager begonnen hat. Er geht auch, als ukrainischer Wachmann getarnt, ins Lager Izbica und wird Zeuge des Massenmordes. Vor seiner Abreise nach London spricht Karski mit Feiner und einem Vertreter des zionistisch gesinnten Untergrundes.
Wie ist der Öffentlichkeit in den alliierten Ländern, wie den Regierungen nur klarzumachen, dass hier ein ganzes Volk abgeschlachtet wird? Die Vorschläge gehen bis zu einem unbefristeten Hungerstreik, mit dem die jüdischen Vertreter im Westen die Regierenden zur Einsicht bewegen wollen. In London stößt Karski auf taube Ohren. Der führende Vertreter des Bundes in London, Szmul Ziegelboim, zieht aus dieser Lage die Konsequenz und begeht Selbstmord.
Die Bitterkeit, die Karski angesichts des Wegsehens führender Politiker empfand, kommt im „Bericht“ von 1944 nur indirekt zum Ausdruck. Erst aus dem Lanzmann-Interview, das der Regisseur später separat von „Shoah“ produziert hat, erfahren wir, dass der von Karski bewunderte britische Außenminister Eden den Zugang zu Premier Churchill versperrte, dass Präsident Roosevelt keine einzige Frage zum Schicksal der Juden stellte und dass Felix Frankfurter, Richter am amerikanischen Supreme Court, Karskis Bericht einfach keinen Glauben schenkte. Zu weit jenseits der menschlichen Auffassungskraft, um für wahr gehalten zu werden.
Karskis Buch ist kein Rührstück. Nüchtern geschrieben, um äußerste Präzision bemüht, führt es uns in den siebten Kreis der Hölle. Eine schmerzliche, eine unverzichtbare Lektüre.
■ Jan Karski: „Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund“. Aus dem Englischen und Französischen von Franka Reinhart und Ursel Schäfer. Antje Kunstmann Verlag, München 2011, 528 Seiten, 28 Euro