: Wer ist hier die Nummer eins?
VERFASSUNG Das Amt des türkischen Präsidenten ist ein repräsentatives. Erdogan will das ändern. Notfalls mit Neuwahlen
ISTANBUL taz | Einer der bekanntesten Publizisten des Landes, Ertugrul Özkök, stellte in der gestrigen Hürriyet eine auf den ersten Blick ziemlich abwegige Frage: Wer wird am 16. November im australischen Brisbane die Türkei bei dem dortigen G-20-Gipfel vertreten? Der Präsident oder der Regierungschef des Landes?
Bislang sind die Kompetenzen in der Verfassung klar geregelt. Der Ministerpräsident bestimmt, wie in Deutschland die Kanzlerin, die Richtlinien der Politik und ist für die exekutiven Entscheidungen zuständig. Der Präsident schwebt über den Parteien, beglaubigt die Gesetze und ist formal Oberbefehlshaber der Armee. Anders als in Deutschland hat er noch mehr Befugnisse: Er kann das Kabinett einberufen, sitzt dem Nationalen Sicherheitsrat vor und muss allen Ernennungen wichtiger Beamter zustimmen.
Als 2007 im Parlament beschlossen wurde, zukünftig den Präsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen, war das eine Reaktion darauf, dass Opposition und Militär die Wahl von Abdullah Gül, dem ersten Präsidenten aus der AKP, zu verhindern versucht hatte. Der Einwand, ein direkt gewählter Präsident würde mit der Rolle des Ministerpräsidenten kollidieren, wurde damals als unerheblich vom Tisch gewischt. Man wollte in den kommenden Jahren ohnehin eine neue Verfassung verabschieden, in der dieses Problem geklärt würde. Jetzt steht die Wahl des Präsidenten unmittelbar bevor und eine neue Verfassung ist immer noch nicht in Sicht. Zusätzlich hat Tayyip Erdogan schon im Vorfeld der Wahl angekündigt, als Präsident „nicht nur herumzusitzen, sondern schwitzend seine Arbeit [zu] tun“, sprich sich in alles einzumischen, was ihm wichtig erscheint. Fast alle politischen Beobachter in der Türkei gehen davon aus, dass Erdogan einen reinen Erfüllungsgehilfen auf den Posten des Ministerpräsidenten setzen wird.
Aus Kreisen der AKP hört man dazu, dass Erdogan die für Juni 2015 geplanten Parlamentswahlen auf den Herbst vorziehen wird, in der Hoffnung, im Parlament dann eine verfassungsändernde Mehrheit erreichen zu können. Klappt das nicht, bahnt sich in der Türkei für die kommenden Jahre eine veritable Verfassungskrise an.
Unabhängig davon lässt sich die Eingangsfrage des Publizisten Özkök aber schon jetzt beantworten. Natürlich wird Erdogan persönlich zum G-20-Gipfel nach Australien fahren, selbst wenn er den bis dahin ernannten Premier im Gepäck mitnimmt.
JÜRGEN GOTTSCHLICH