Mit dem Strom
Das Buch „93 Minutentexte. The Night of the Hunter“ liest einen Film auf ungewohnte Art. Heute im Arsenal
Der Film ist ein Solitär, und das aus vielen Gründen: Sein Regisseur, Charles Laughton, übernahm nur dieses eine Mal die Regie, später (und zuvor) verdingte er sich als Schauspieler. Das Schwarzweiß – die „harte Schale aus Schwarz und Weiß“, wie der Filmemacher Matthias Rajmann schreibt – gehörte schon nicht mehr ganz der Zeit der Entstehung an. Douglas Sirk etwa erprobte damals, Mitte der 50er-Jahre, schon die intensive Farbigkeit von Technicolor. Zudem steckt „The Night of the Hunter“ voller Bilder und Szenen, die das, was gewöhnlich in einem Spielfilm zu sehen ist, erweitern und verfremden. Denn Laughtons Film ist reich an Traum- und Albtraumbildern, an Aufnahmen dunkel verzauberter Landschaft, an rätselhaften Einstellungen auf Kröten oder Nachtvögel.
Zu den spektakulärsten zählt die Aufnahme einer weiblichen Leiche. Sie ist in einem Autowrack unter Wasser eingezwängt, ihr Haar folgt sanft dem Weg der Strömung, in der auch Wasserpflanzen wogen. Wie eine erstarrte und doch noch bewegliche Nymphe sieht diese Frau aus. Wenig später gelingt ihren beiden Kindern John und Pearl die Flucht auf diesem Fluss, über den Kopf der toten Mutter, über ihr nasses Grab hinweg. Nicht wegzudenken aus dem Inventar der Filmgeschichte sind auch die Fingerknöchel des Wanderpredigers Harry Powell (Robert Mitchum). Die Schriftzüge „LOVE“ und „HATE“ sind darauf tätowiert. Und je lauter er zu und von Gott spricht, umso mehr wirkt er wie ein Gesandter des Teufels.
Es liegt nahe, diesem außergewöhnlichen Film ein außergewöhnliches Buch zu widmen. Die Berliner Filmpublizisten Michael Baute und Volker Pantenburg haben die Aufgabe in Angriff genommen; das Ergebnis „93 Minutentexte. The Night of the Hunter“ ist kürzlich im Berliner Verlag Brinkmann und Bose erschienen und wird heute Abend im Arsenal-Kino vorgestellt. Bemerkenswert ist das Buch, weil 93 Autoren und Autorinnen darin schreiben – und zwar jeder zu einer Minute des Films. Wer über welche Minute sich äußern würde, entschied in diesem Frühjahr das Los.
So treten nun Filmpublizistinnen, Regisseure, Theoretikerinnen und Schauspieler an, jeweils eine Minute zu beschreiben. Mal wird akribisch jede Einstellungsgröße notiert wie im Falle des schon zitierten Matthias Rajmann, mal wird frei assoziiert wie im Fall Julia Hummers. Hummer träumt, sie sei John Harper, der kleine Junge im Zentrum des Films, den Powell verfolgt, um an die Beute aus einem Banküberfall heranzukommen. Sie synchronisiert ihre Imagination mit dem Fluss des Films, wenn sie über die 55. Minute – das ist kurz bevor John mit seiner Schwester Pearl vor Powell fliehen wird – notiert: „da schoss der Kopf des Priesters aus dem Wasser und auf seinem Kopf der Apfel und Hörner hatte er und er lachte und er hatte Zähne wie ein Hai und sein Gesicht war voller Schleim.“ CRISTINA NORD
„93 Minutentexte. The Night of the Hunter“. Hrsg. von Michael Baute und Volker Pantenburg. Brinkmann und Bose, Berlin 2006, 288 Seiten mit zahlreichen Abb., 30 €Ľ„The Night of the Hunter“ wird heute um 19 Uhr im Arsenal-Kino gezeigt; um 21 Uhr wird das Buch vorgestellt