: Mehr ist nicht drin
Herausdestillieren, was an Rock heute noch tragbar ist, und dann mächtig was drauftürmen: Kommende Woche erscheint „Neon Bible“, das neue Album der kanadischen Band Arcade Fire, die erste große Platte dieses Jahres
VON THOMAS WINKLER
Irgendwo in der Nähe von Los Angeles sitzt ein gewisser Axl Rose in einer seiner Villen. Es geht ihm nicht gut. Er ist reich, er ist einsam, er hat ein Problem. Ab und zu geht das schwere Tor zum Anwesen auf, eine Limousine fährt vor. An Bord ein Musiker oder ein Produzent, noch ein Kollaborateur, der Mr Rose dabei unterstützen soll, ein seit Jahren angekündigtes Guns-N’-Roses-Album fertigzustellen. Später irgendwann geht das Tor wieder auf, die Limousine fährt raus, aber statt einer Platte kommen nur ein paar neue Gerüchte in die Welt. Es sind Geschichten, in denen Schreibblockaden und psychische Extremzustände vorkommen, Drogenmissbrauch und Wutausbrüche, Größenwahn und zerstörtes Mobiliar, weitgehend schwarz eingerichtete Zimmerfluchten, halbautomatische Schusswaffen und andere Details aus einem Rock-’n’-Roll-Leben. Das geht so nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt: Tür auf, Tür zu, vermutete 13 Millionen Dollar Produktionskosten sind ausgegeben und immer noch keine Musik in Sicht.
Was das mit Arcade Fire zu tun hat? Immerhin so viel: Es scheint mitunter ziemlich kompliziert zu sein, eine Rockplatte zu machen. Andererseits: Andere wieder tun es halt einfach mal so.
Alles darüber hinaus allerdings wäre vermessen. Arcade Fire sind nicht angetreten, um mit „Neon Bible“, ihrem zweiten Album, die Rockmusik zu retten. Vielleicht gerade deshalb gelingt ihnen das Unterfangen scheinbar mühelos. Denn „Neon Bible“ destilliert einerseits zielsicher heraus, was an Rock heutzutage noch tragbar ist. Und wagt zudem, einiges diesem Kanon hinzuzufügen, was auf dem Müllhaufen der Popgeschichte abgelegt worden war. Mehr ist momentan wohl nicht möglich.
Dazu greifen Arcade Fire tief in den Fundus. Zum üblichen Rockinstrumentarium aus Gitarren, Bass und Schlagzeug kommen Bläser und Streicher, Orgel und Drehleier, Akkordeon und Mandoline, auch mal ein Synthesizer und vieles andere. Und noch einiges mehr, was man sich womöglich nur einbildet zu hören. Denn durch die Musik auf „Neon Bible“ schwingt wie selbstverständlich die halbe Rockhistorie: „Keep The Car Running“ adaptiert einen geradezu archaischen Rockabilly-Rhythmus, „Windowsill“ schmeckt fast schon wehmütig noch einmal nach postpubertärer Rebellion gegen familiäre Autoritäten, „Intervention“ hat keine Angst vor Monsterrock und Hymnenpathos, „Black Wave“ ist ein dunkles Kinderlied wie von Nico, die Bläser von „Ocean of Noise“ verbreiten die Stimmung einer zünftigen Mariachi-Band, der ungeduldig vorwärts trudelnde Rhythmus von „The Well and the Lighthouse“ tut jugendlich ungestüm, der „Antichrist Television Blues“ ist ein nachgerade klassisches Folk-Stück mit akustischer Dängelgitarre und sporadischen Klaviersprengseln.
Die Arbeitsweise der Band lässt sich am besten am Einzelbeispiel nachvollziehen: „No Cars Go“, ein Song ihrer allerersten EP von 2003, findet sich in einer neuen Interpretation auch auf „Neon Bible“. Was damals kaum mehr als eine Idee war, ein fast etwas achtlos hingeworfener Entwurf, entwickelte sich mit der Zeit, in endlosen Proben, durch die immer wiederkehrende Repetition auf der Bühne zu einem ausufernd instrumentierten, üppig arrangierten Epos. Nun, in der neuen Version, dreht sich der Song um sich selbst wie ein Tänzer in Trance, berauscht sich immer wieder neu an der eigenen Melodie, bricht dann einen Moment wie erschöpft ab, um sich kurz darauf wieder aufzuschwingen, weiterzumachen, zu rotieren und drehen und sich erneut zu steigern, immer weiter im Kreis. In diese Hysterie mischen sich immer neue Stimmen, Instrumente und Geistesblitze. Innerhalb einer scheinbar festen Struktur regiert das erratische Moment, bricht die Anarchie aus, kehrt der Sturm und Drang in den Rock zurück.
Das Beispiel „No Cars Go“ beweist, dass man gar nicht genug Ideen und Schichten und Töne übereinanderstapeln kann, solange man es hinkriegt, einen Song dann doch noch einen Song sein zu lassen. Kein Wunder, dass andere Musiker solche komplexen Konstrukte zu schätzen wissen. Zu den drei großen B der Arcade-Fire-Bewunderer kam unlängst ein weiteres. Nach Bowie, Byrne und Bono hat sich nun auch Bryan Ferry als Fan geoutet. Auch Eric Clapton und Chris Martin von Coldplay sollen Anhänger sein seit „Funeral“, dem 2004 erschienenen Debütalbum, das mehr als 1 Million Mal weltweit verkauft wurde, obwohl es auf einem Minilabel erschien und nur von marginalen Promotionsbemühungen begleitet wurde. Das Album landete auf allen Bestenlisten, der Song „Wake Up“ wurde zum Stammgast in Fußballstadien und Eishockey-Hallen. Und nicht zuletzt löste „Funeral“ ein bislang nie da gewesenes Interesse an kanadischer Popmusik aus: Dank Arcade Fire bekamen auch Bands wie Broken Social Scene, Stars oder Metric verdiente Aufmerksamkeit.
Bereits „Funeral“ klang wie ein großer Wurf. Unfertig bisweilen zwar, aber spektakulär. Nach Ambitionen, nach Ehrgeiz. „Funeral“ schien mitunter der verzweifelte Versuch zu sein, der Rockmusik das Bekenntnis abzuringen, doch mehr sein zu wollen als nur eine leere Hülle, eine abgewirtschaftete Nutte der Unterhaltungsindustrie. Mit „Neon Bible“ nun wagen sich Arcade Fire in einen anderen rockhistorischen Abgrund: Sie riskieren den Verdacht, ein Konzeptalbum aufgenommen zu haben. Nicht nur setzt sich der Titelsong, wie die meisten geschrieben von Sänger, Gitarrist und Extheologiestudent Win Butler, kritisch mit der nordamerikanischen Religionsindustrie und ihren TV-Evangelisten auseinander: Das ganze Album wurde in Kirchen aufgenommen. Eine kleine kanadische Dorfkapelle wurde zum Studio umgebaut, in dem die Band ein Jahr lang arbeitete. In einem großen Gotteshaus im heimischen Montreal fand man eine der Größe der Aufgabe gewachsene Orgel. Und nach Budapest ging die Reise, um in einer dortigen Kirche Orchester und einen Armeechor aufzunehmen. Das Ergebnis schließlich wurde im Januar an fünf aufeinanderfolgenden, ausverkauften Abenden in einer Londoner Kirche live vorgestellt.
Einen weiteren Rückgriff auf überholte Strukturen vollziehen Arcade Fire in ihrer Organisationsweise. Zwar ist die Struktur der Band offen, lädt sich der harte, momentan siebenköpfige Kern der Gruppe um das Ehepaar Régine Chassagne und Win Butler immer wieder neue Gastmusiker ein. Aber in erster Linie reaktivieren Arcade Fire das zwischenzeitlich arg angerostete Produktionsmodell Band, das Zusammenspiel von Individuen, das im Ergebnis mehr ergibt als die Summe der Einzelteile. Diese Band ist eine Band. Statt MP3-Dateien von neuen Songs hin und her zu schicken, spielen hier Menschen zusammen in einem Raum. In der Folge kann man eben mal schnell den Mentor David Bowie begleiten oder hat einen Talking-Heads-Song im Repertoire, wenn David Byrne überraschend zu einem auf die Bühne geklettert kommt. Oder zusammen mit U2 den alten Joy-Division-Gassenhauer „Love Will Tear Us Apart“ covern – das allerdings soll dann doch etwas seltsam geklungen haben.
Die Live-Qualitäten von Arcade Fire sind legendär. Aber auch auf „Neon Bible“ lässt sich endlich wieder mal jener Ratschlag anwenden, der sich in den Achtzigern auf fast jedem Plattencover fand: „Play it loud“. Denn sonst verpasst man einiges an Nuancen und Schattierungen, viele kleine Momente und große Gesten. Außerdem ist „Play it loud“ einer der schönsten von vielen altmodischen Sätzen aus der Mottenkiste der Rockmusik. Und garantiert mehr Rock ’n’ Roll, als 14 Jahre an einem einzigen Album zu basteln.
Arcade Fire: „Neon Bible“ (City Slang/ Universal) Live: 27. 3. Berlin, 28. 3. München, 1. 4. Köln