Sexarbeit und Doppelmoral

Die Studie von Margrit Brückner und Christa Oppenheimer bietet fundierte und durchaus erschreckende Erkenntnisse über die „Lebenssituation Prostitution“ in Deutschland

Die gängige Rede vom „ältesten Gewerbe der Welt“ unterstellt, jedermann wisse genau, worum es dabei geht. Das ist nicht der Fall. Sozialwissenschaftlich fundiertes Wissen über die „Lebenssituation Prostitution“ ist ausgesprochen rar. Die gute Studie von Margrit Brückner und Christa Oppenheimer bietet nun zahlreiche empirische Erkenntnisse zur Welt der Prostituierten.

Das Buch beruht auf der Auswertung von 72 umfangreichen Fragebögen. 32 Datensätze übernimmt sie aus einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 40 Datensätze erstellten die Autorinnen anhand der von ihren Studentinnen durchgeführten Befragungen von fünf Prostituierten, zwei Bordellbesitzern und einem Zuhälter.

Ergänzt und vertieft werden diese Daten durch Interviews mit zwölf Expertinnen und Experten von Hilfseinrichtungen, Solidaritätsgruppen gegen Frauenhandel und Behördenvertretern. Zusammen mit den soziodemografischen Daten ergibt sich so ein differenziertes, aber keineswegs repräsentatives Bild von der Situation der Prostituierten. Die Autorinnen sind sich der Tatsache bewusst, dass die Datenbasis zu schmal ist für eine repräsentatives Bild. Deshalb interpretieren sie das Material auch nur zurückhaltend und vermeiden Kurzschlüsse oder vorschnelle Verallgemeinerungen.

Das ist kein Mangel, sondern ein Vorzug der Studie, denn Prostitution trägt „unterschiedliche Gesichter“. So haben Edel-, Billigst- und Zwangsprostitution im Grunde wenig miteinander gemeinsam. Die beiden Autorinnen unterscheiden pragmatisch und situativ angemessen zwischen professionellen deutschen Prostituierten, Migrationsprostitution und Beschaffungsprostitution. Aus sprachlichen Gründen konnten bei der Migrationsprostitution nur Frauen aus südamerikanischen und osteuropäischen, nicht aber aus afrikanischen und asiatischen Ländern befragt werden.

Zu den bedrückendsten unter den vielen trostlosen Befunden der Studie gehört, dass Prostitution nach wie vor mit vielen Formen von leichter bis schwerer Gewalt verbunden ist. Zwar spielen brutale Zuhälter, die sich Reviere und Frauen aufteilten, keine große Rolle mehr. Dennoch werden 78 Prozent der Frauen wenigstens einmal Opfer leichter und 60 Prozent Opfer schwerer Formen von Gewalt.

Im Zuge der Globalisierung haben Schlepper die herkömmlichen Zuhälter ersetzt: Frauen werden zu Kreditsklaven, die in Bordellen die völlig überzogenen Reisekosten abarbeiten müssen. Aus nahe liegenden Gründen sind drogenabhängige Beschaffungsprostituierte, die auf dem Straßenstrich oder in Billighotels arbeiten, der Gewalt am häufigsten ausgesetzt.

Durch die vertiefenden Interviews kommen unfassbare Lebensgeschichten ans Licht: Eine Sechzehnjährige verliebte sich Hals über Kopf, verließ das Elternhaus und wurde von ihrem Liebhaber, der sich bald als Zuhälter herausstellte, in einer ebenso schnellen wie perversen Lehrzeit vom Servieren über Animierdienst und Kokaingenuss bis zur Prostitution und dem harten Sexgeschäft „eingeschult“. Am wenigsten von Gewalt bedroht sind nach den beiden Autorinnen ältere Prostituierte, die es schaffen, sich selbstständig zu machen und als Dominas einen Massagesalonbetrieb aufziehen.

Die Befragung von Expertinnen und Experten zur Wirkung des Prostitutionsgesetzes vom 2002 sind ernüchternd. Sie räumen übereinstimmend ein, dass es „in die richtige Richtung geht, da es zur Normalisierung beiträgt und Ausbeutungsgefahren reduziert, aber die Problemlage nicht ausreichend erfasst“ (Margrit Brückner). Das Gesetz entkriminalisierte die Prostitution zwar, blieb jedoch auf halbem Weg stehen. So können Bordellbesitzer, die Zimmer für 140 bis 200 Euro pro Tag vermieten, nicht wegen Wuchers belangt werden, da die Etablissements nicht als Wohnungen, sondern als Gewerbebetriebe gelten.

Andererseits gelten Einkünfte aus Prostitution nicht als Einkünfte aus selbstständiger Arbeit, sondern „nach Interpretation des Bundesfinanzhofs als ‚gewerbsmäßige‘ – nicht als gewerbliche Einkünfte“. Trotzdem unterliegen sie der Steuerpflicht, allerdings haben die Steuerbehörden keine tauglichen Mittel zur Steuerveranlagung, womit die Frauen mit einem Bein immer schon in der Illegalität stehen. Prostituierte haben zwar Anspruch auf eine Krankenversicherung, müssen aber ihren Beruf als „Bardame“ oder „Tänzerin“ kaschieren.

Ähnliche Ungereimtheiten ergeben sich aus dem legalisierten Bordellbetrieb, wo der größte Teil des Sexgeschäfts abläuft. Die Ausstattung und der Sicherheitsstandard dieser Betriebe sind gestiegen, aber „Arbeitsvorgaben bezogen auf die Sexarbeit“ (Margrit Brückner) existieren nicht, was angesichts zerfallender Preise zwangsläufig zu einer Verlängerung der Arbeitszeiten führte, also die Frauen zur Intensivierung der Selbstausbeutung ihres Körpers zwang, um groteske Mietpreise zahlen und den Lebensstandard erhalten zu können.

In den Niederlanden zum Beispiel sind Arbeitsverträge zwischen Bordellbetreibern und Prostituierten legal, wodurch die Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten und Preise/Löhne geregelt werden. Hierzulande sind solche Verträge nach wie vor sittenwidrig und verboten.

Eine denkbar schlechte Figur machen in der Studie die Freier, also die männlichen Kunden. Auf den Punkt gebracht verlangen sie für weniger Geld immer abenteuerlichere Dienste und sind in den Augen vieler Frauen „einfach Schweine“. Dazu passt auch, dass ein mittlerweile aus dem Geschäft ausgestiegener Zuhälter seine ehemalige Tätigkeit als „Kopfsache“ bezeichnet.

Über die Verdienstmöglichkeiten als Prostituierte gibt die Studie keine Auskunft, weil darüber niemand reden will. Sicher ist nur, dass das älteste Gewerbe von Frauen betrieben wird, aber das große Geld hauptsächlich in Männerhänden landet. Die beiden Autorinnen zeigen, dass das kein Wunder ist. Vielmehr weist es klar darauf hin, dass die Rahmenbedingungen des Geschäfts von Männern bestimmt werden und dass Heuchelei und Doppelmoral der Gesellschaft mit dafür sorgen, dass Prostitution zivil-, steuer- und arbeitsrechtlich kein normales Geschäft wird.

RUDOLF WALTHER

Margrit Brückner und Christa Oppenheimer: „Lebenssituation Prostitution. Sicherheit, Gesundheit und soziale Hilfen“. Verlag Ulrike Helmer, Königstein 2006, 360 Seiten, 29,90 €