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Archiv-Artikel

Zeichen der Zermürbung

Der Gaza-Streifen bleibt belagert, doch Hamas und Fatah sind unfähig zum Kompromiss: So dürfte auch die aktuelle Waffenruhe in Nahost nur bis zum nächsten Sturm vorhalten

Der Gaza-Streifen wird zu einer Art Somalia: Nur, dass der Staat hier schon vor der Gründung zerfälltDer Westen sollte die Waffenruhe nutzen, um einen Fahrplan für eine Zwei-Staaten-Lösung zu entwickeln

Vereinbarungen über einen Waffenstillstand werden im Nahen Osten immer wieder geschlossen – und gebrochen. Und doch mischt sich in die allgemeine Skepsis der Palästinenser ein wenig Hoffnung, dass die seit einer Woche andauernde, fragile Waffenruhe im Gaza-Streifen zumindest länger dauern könnte als andere zuvor. Chance zum Frieden oder nur eine Atempause im schier endlosen Kreislauf von Gewalt und Zerstörung?

Die Skepsis rührt aus leidvoller Erfahrung. Längst haben der „bewaffnete Widerstand“ der Palästinenser und die „Terrorbekämpfung“ der Israelis eine Eigendynamik entwickelt, die sich jeder politischen Steuerung entzieht. Für die Wiederbelebung eines politischen Prozesses in einem derart asymmetrischen Konflikt ist deshalb weniger entscheidend, welche Gewaltaktionen „vor Ort“ stattfinden. Viel wichtiger ist, ob ein politischer Wille vorhanden ist, trotzdem einen Weg der friedlichen Konfliktregelung einzuschlagen.

Die augenblickliche Waffenruhe ist vor allem der beidseitigen Erschöpfung geschuldet. Während die Weltöffentlichkeit im Sommer ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Kämpfe im Libanon richtete, fand im Gaza-Streifen so etwas wie ein monatelanger, israelisch-palästinensischer Zermürbungskrieg statt. Ende Juni reagierte die israelische Armee auf die Entführung ihres Soldaten Gilad Schalit durch palästinensische Kommandos mit dem militärischen Wiedereinmarsch in den Gaza-Streifen. Seitdem gab es dort fast 400 Tote, fast die Hälfte davon zivile Opfer, darunter 61 Kinder und Jugendliche. Dennoch erreichte Israel keines seiner erklärten Kriegsziele: Weder konnte der entführte Soldat befreit werden, noch fand die hochgerüstete israelische Militärmaschinerie ein probates Mittel, den Beschuss mit Kassamraketen aus dem Gaza-Streifen zu unterbinden.

Auch auf palästinensischer Seite sind die Zeichen der Zermürbung unübersehbar. Die hohen Opferzahlen der letzten Monate und die allgegenwärtige Zerstörung, das politische Chaos und der wirtschaftliche Niedergang haben die Sympathien für den „heroischen Widerstand“ reduziert. Der palästinensische Präsident Abbas hatte den Mut, am Tage des israelischen Artillerieangriffs auf Beit Hanun, bei dem 19 Zivilisten starben, ein Ende des palästinensischen Kassambeschusses zu fordern, und erntete dafür wenig Protest. Dass eine der letzten, während der Waffenruhe gezündeten Kassamraketen jüngst auf palästinensischem Boden zerbarst, symbolisiert in den Augen vieler Palästinenser die Fragwürdigkeit dieser Form des Widerstands gegen die israelische Okkupation. Bewaffnete Gruppen reklamieren die Waffenruhe jedoch als Erfolg ihrer militärischen Zermürbungsstrategie gegenüber Israel.

Gaza befindet sich seit Jahresbeginn quasi in einem Belagerungszustand: immer wieder unter Beschuss vom Land, von der See und aus der Luft, und durch die verheerenden Luftangriffe auf die Infrastruktur im Sommer monatelang ohne regelmäßige Wasser- und Elektrizitätsversorgung, sind seine Bewohner aufgrund der fast völligen Schließung der Grenzübergänge nicht nur eingeschlossen, sondern auch von einer hinreichenden Versorgung mit Waren, Lebensmitteln und Medizin abgeschnitten. Die Wirtschaft ist praktisch zum Erliegen gekommen. Die nach dem Regierungsantritt der Hamas verkündeten Sanktionen Israels und des Westens haben die wirtschaftliche Strangulation dramatisch erhöht. Das völlige Auseinanderfallen des Gaza-Streifens wird durch die europäische Notstandshilfe, die nun über Umwege geleistet wird, nur partiell aufgefangen. Was hier an Strukturen zerstört wird, ist nur mühsam wieder aufzubauen, die Abhängigkeit von humanitärer Hilfe aus dem Ausland verfestigt.

Begleitet wird diese Entwicklung durch einen Zerfall der „staatlichen“ Ordnung, der ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat. Wenn Recht und Ordnung zerbrechen und wenn öffentliche Institutionen persönliche Sicherheit und wirtschaftliches Überleben nicht mehr gewährleisten, dann gewinnen substaatliche Strukturen an Bedeutung. Diese Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft kommt zum einen in einer „Retribalisierung“ zum Ausdruck, dem Rückzug auf alte Clanstrukturen: Nur die Großfamilie, der Stamm können noch Schutz vor Gewalt und Hilfe zum Überleben bieten. Zum anderen schreitet die politische Polarisierung voran, die die palästinensische Gesellschaft in unversöhnliche Lager spaltet. Dies ist kein guter Nährboden für gemäßigte Kräfte. In der Fatah wird der demokratische Reformflügel marginalisiert; ein ähnlicher Fragmentierungsprozess lässt sich bei Hamas beobachten. Die soziale Verelendung fördert zudem Kriminalität und Gewalt. Die Grenzen zwischen politischer und krimineller Gewalt verschwimmen. Der Gaza-Streifen befindet sich auf dem Weg der „Somalisierung“. Im Unterschied zu Somalia aber findet der Zerfall des „Staats“ hier schon vor der Staatsgründung statt.

Die sechs Monate andauernden Verhandlungen über eine „Regierung der nationalen Einheit“ sind vorerst gescheitert, weil man sich zwar auf eine Regierungsplattform, nicht aber auf die Ressortverteilung einigen konnte. Wer soll die Finanzen, wer die „Sicherheitskräfte“ kontrollieren? Ohnehin ist keine der beiden Seiten bereit, ein „staatliches“ Gewaltmonopol zu akzeptieren. Und Zweifel sind berechtigt, ob das angestrebte Technokratenkabinett die beiden zentralen Probleme in den Palästinensergebieten wird lösen können: einerseits die internationale Isolation zu beenden, andererseits eine innerpalästinensische Befriedung herbeizuführen. Eine technokratische Zwischenlösung verschleiert auch nur die Unfähigkeit weiter Teile der palästinensischen Eliten, einen historischen Kompromiss zu schließen und eine konsistente politische Strategie zu entwickeln. Die Entscheidung zwischen dem Aufbau demokratischer Institutionen mit der Perspektive einer Zweistaatenlösung einerseits, dem bewaffneten Widerstand andererseits – bei vielen steht sie noch aus.

Die Waffenruhe wird diesen Klärungsprozess kaum forcieren, solange damit keine politische Perspektive verbunden wird. Die jüngsten Äußerungen des israelischen Ministerpräsidenten Olmert, der sich zur Vision einer Zweistaatenregelung bekannte, bieten dafür keine tragfähigen Ansatzpunkte. Denn die Region braucht keine aufgewärmten Politvisionen, sondern einen realistischen Fahrplan zu einer Zweistaatenregelung.

Dafür sollte die Waffenruhe genutzt werden. Indem die internationale Gemeinschaft ihre Bedingungen, die sie an eine Beendigung der Isolation der palästinensischen Autonomieregierung geknüpft hat, differenzieren würde, könnte sie dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Man stelle sich vor, die Waffenruhe hält und nichts passiert? Dann wäre der Waffenstillstand wieder einmal nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm gewesen – sei es ein Bürgerkrieg in den Palästinensergebieten oder eine erneute militärische Eskalation.

CHRISTIAN STERZING