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Geritztes Leben

Das Dortmunder Museum zeigt die naturalistische Kunst von Dorothee von Wertheim. Sie will unspektakuläre Ereignisse vor dem Vergessen bewahren

VON KATJA BEHRENS

Von Theorie und Konzept möglichst unbeleckt, nur den handgreiflichen Überresten der materialen Wirklichkeit verpflichtet... So sahen sich viele vor allem europäische Künstler in den späten 1960er und 70er Jahren, die sich mit ihrer Arbeit in Opposition zu den glatten Oberflächen und Inhalten von Pop, Minimal und Concept Art setzten. Ihren Anfang in Deutschland nahm die „Spurensicherung“ als Kunstrichtung 1974 in einer Ausstellung in Hamburg. Unter diesem Namen wurde damals eine Gruppe von Künstlern zusammen gefasst, deren künstlerischen Bestrebungen eine Zeit lang parallel liefen. Es ging Menschen wie Nikolaus Lang, Christian Boltanski, Jean Le Gac, Nancy Graves, Paul-Armand Gette, Charles Simonds, dem Künstlerpaar Anne und Partrick Poirier und all den anderen um die Sichtbarmachung und Konservierung von Lebensspuren, um die Rekonstruktion und systematische Erfassung des Verschwindenden, um Beschreibung und Archivierung ephemerer Erscheinungen. Sie alle verband das Interesse an archäologischen und restauratorischen Methoden, die sie für ihre Kunst fruchtbar zu machen verstanden. Kurz: es ging um die Suche nach dem „authentischen“ Bild. So ist auch die 1945 in Volmerdingsen in Westfalen geborene und heute in Köln lebende Künstlerin Dorothee von Windheim seither damit beschäftigt, Gebäude, Pflanzen, Körper, Blicke und Geschichten dem Vergessen zu entreißen – oder zumindest so zu tun.

Die Ausstellung „Das wahre Bild“ im Dortmunder Museum am Ostwall kreist um die im zentralen Lichthof des Museums erstmals gezeigte neue Arbeit „Angesicht“. Ein großer blasser Kubus aus stoffbespannten Tableaus lädt zum Betreten ein. Die serielle Vervielfältigung eines schemenhaft erkennbaren Gesichts im Stoffmuster steht hier in seltsamem Kontrast zu dessen Herkunft. Denn hinter dem pathetischen Titel der Arbeit verbirgt sich das Gesicht einer Figur, die die Künstlerin vor Jahren in die Rinde eines Baumes geritzt fand, dort abnahm und nun wiederholt als Modul verwendet. Seither entstehen neben den Stoffen dekorative skulpturale Objekte mit diesem Gesicht, die in ihrer minimalistischen Präsentation die ursprünglich „authentischen“ Spuren nun doch zu Museumsstücken machen. Wie ähnlich auch die Lippenstiftspuren auf den kleinen, vormals weißen, jetzt rosenblütenfarbenen Tüchlein ausschließlich mit der Intention und zu dem Zweck ihrer Ausstellung entstehen.

Der Zufall wird schon in der Legende um ein Stück Mauerwerk, dessen narrative Schönheit den jungen Leonardo da Vinci zu einem figürlichen Bild inspiriert haben soll, zum Hauptakteur. Bei Dorothee von Windheim ist daraus inzwischen eine gezielte und professionelle Aneignung geworden, die aller aktueller Kunstströmungen zum Trotz beharrlich weiterhin Aktualität behauptet. Ihr Blick auf die unscheinbaren und bröckelnden Oberflächen unserer Lebenswelt ist selbst denkbar unspektakulär und schwer nur lässt sich in den gräulichen Bildern mehr als eine gelungene Mimikry erkennen. Die Kunst hat sich ihrem Gegenstand recht weit angenähert.

Dorothee von Windheim bis 28. Mai Jun Yang bis 15. April Infos: 0231-5023247

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