: Du bist Sand mit Verstand
Die abenteuerliche Begegnung des Prekariars Schönborn mit Cheftherapeut Dr. Leuchte
„Ich habe nie katholische Zahnpasta in einem Schuhschrank aufbewahrt“, wehrt sich Prekariar Schönborn, während er ein Klavier zersägt. „Geholfen haben mir immer nur fehlende Seile.“ Dann versteckt er sich in einer großen Kiste Fisch.
Angefangen hat alles vor drei Wochen, als Schönborn sich in das „Heim zur Selbstorientierung für Menschen und solche, die meinen, welche zu sein“ begab. „Ich hatte mich selbst verloren und musste mich neu finden“, berichtet Schönborn, gesteht aber gleichzeitig, dass er damals erst „irgendwas von meinen Händen und Armen“ kannte. Der Weg sei ihm deshalb naheliegend erschienen, zu größeren Teilen jedenfalls.
„Bestimme dich aus dir selbst heraus oder erfinde etwas, das halbwegs plausibel erscheint!“, lautet das Motto von Heimleiter und Cheftherapeut Dr. Burkhart Leuchte, dem selbsternannten „Heribert Faßbender der Nerven“. „Du bist mehr als der Schaum auf den Wellen“, erklärt er seinem Patienten gleich zu Beginn der ersten Sitzung. „Du bist mindestens so etwas wie Sand mit Verstand.“ Dann schweigt er einen Moment, wühlt mit seiner Hand in einer Schüssel Froschlaich, wobei er leise „Alles nur Halbwurstwaren und pflegebedürftiger Aufschnitt“ murmelt. „Ich bin ein wahrer Stuhl“, macht Schönborn ein erstes Angebot der Selbsteinschätzung und darf zur Belohnung auf sein Zimmer und die großen Klassiker der Weltliteratur rückwärts lesen – Dostojewski aber nur mit russischem Akzent und einem Löffel Kaviar im Mund.
„Wahrheit ist ein guter Freund ohne Sprachfehler und der Fähigkeit, auch schwerere Mathematikaufgaben ohne Taschenrechner zu lösen“, erklärt Cheftherapeut Dr. Leuchte am nächsten Tag. „Unwahrheit“, fährt er fort, „ist dagegen eine Sache, die mit P anfängt und sehr stinkt, auch wenn man sie nicht hört und sieht oder einen Taucheranzug trägt.“
Dann berichtet Schönborn von seinem Leidensweg: „Zunächst verlief alles völlig normal“, erklärt Schönborn: Examensarbeit („Die großen Geheimnisse der Integralrechnung unter einem Mikroskop betrachtet“), provokative Fallstudien („Heißluft als Konsequenz“) und schließlich Thesenanschläge („Ich befürchte, Gott hat sich selbst ein bisschen überschätzt“ – mit Beispielen aus seiner Schöpfung). Eines Tages sei Schönborn jedoch „aus einer Laune heraus“ in den Verein „Wir gewinnen, wenn wir uns teilen!“ eingetreten. Es folgte die Mitgliedschaft in der Stiftung „Ist jeder zu mehreren, sind wir viele“ sowie der Beitritt in den Damenchor „Getrenntes Bremen“, „obwohl ich gar nicht singen kann und außerdem aus Bielefeld stamme“. Nach einem kurzen Moment fährt er fort: „Da war’s natürlich aus mit mir.“
Als sein wichtigstes Ziel formuliert er anschließend: „Eins zu werden, notfalls mit Herztransplantationen am offenen Ohr“ sowie „Friseure sammeln und stapeln“ – „zur besseren Ordnung“, wie er auf Nachfrage ergänzt. Zum Abschluss der Sitzung empfiehlt Cheftherapeut Dr. Leuchte: „Etwas Fechten, etwas Bogen schießen, Äpfel halbieren!“ Und ergänzt mahnend: „Alles, mindestens zweimal am Tag, aber nicht in dieser Reihenfolge.“
Tatsächlich macht Schönborn in den nächsten Tagen erste Fortschritte. Neben seiner Arbeit als Schlüsselwart verfasst er kleine Betrachtungen zum Thema „Ich-Sucht bei Heringen“, „Der Ohrenfisch mit den Augen einer Forelle gesehen“ sowie „Das Karolinger Reich als intersubjektive Konnotationshilfe für Barsche“. Nach einer Woche belegt er den dritten Platz beim Tassenschach, organisiert die Vitaminkontrolle der Stadtwerke und veröffentlicht den Gedichtband „Bernd ist die Farbe der Liebe“. „Ich weiß, ich bin für diesen Auftrag auserwählt“, bekennt Schönborn selbstbewusst, „was immer es für ein Auftrag sein mag.“
Erst nach und nach werden Persönlichkeitsänderungen bei Schönborn wieder erkennbar, zum Beispiel als er versucht, Stühle „nur noch rechtsherum“ zu lagern, Tische dagegen „abwärts zu stellen“. Schließlich fordert er mit Nachdruck, „die bedingungslose Abfolge der Ereignisse“ spielen zu wollen. Als Cheftherapeut Dr. Leuchte ihn stattdessen drängt, das Lied von der kleinen Katze auf dem Baum zu singen, die ein Schmetterling wird, „aber immer nur eine Strophe auf einmal“, kommt es schließlich zu oben beschriebenem Anfall.
Schönborn lebt heute die meiste Zeit in seiner Fischkiste, in der er zuweilen leise „Die Heiterkeit der Steine“ vor sich hinsummt. „Ich möchte ein Seepferdchen sein, von einfacher Schönheit, im Wasser schwebend und mit unkomplizierten Verdauungsorganen“, sind seine letzten Worte. Dann setzt die Kiemenatmung ein. JAN ULLRICH